Erinnerungen und Gedanken zur Entwicklung der über 30-jährigen kreiskirchlichen Partnerschaft mit der Eparchie Tambow:

Die Partnerschaft des Kirchenkreises mit der Eparchie Tambow wurde von russischer Seite 17 Jahre maßgeblich durch die Arbeit des Priesterehepaares Nikolaij Toropzew und Nina Toropzewa geprägt. Ihre nicht geklärte Todesursache gibt bis heute Rätsel auf.

Katastrophe – Katastrophe – so tönt es am frühen Morgen des 7. September 2004 aus dem Telefonhörer! Erzpriester Nikolaij Toropzew und Nina Toropzewa, seine Frau, sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Auf der Krim, bei der Rückfahrt von einem Kloster zum Flughafen Simferopol. Die Woche im Kloster sollte ihrer Seele guttun und ihre Arbeitskraft im eigenen Bereich beflügeln.

Was war passiert? Der Reifen eines schweren vor ihnen fahrenden Lastwagens hatte sich gelöst und war in das Taxi gerast mit seinen sieben Insassen. Priester Nikolaij war sofort tot, seine Frau starb auf dem Weg zum Krankenhaus. Sohn Alexij holte seine toten Eltern von der Krim zurück, drei Tage später fand die Beerdigung in Tambow statt.

Gerüchte gingen um, wie es zu ihrem Tod kommen konnte. Das Priesterehepaar war in Tambow beliebt, um seine offene, phantasievolle Gemeindearbeit wurde es von anderen Priestern beneidet, hinter vorgehaltener Hand. Verleumdungen machten die Runde. Der damalige Erzbischof Evgenij hielt seine schützende Hand über sie. Nach seinem plötzlichen Tod 2002 änderte sich das von heute auf morgen. Sein Nachfolger, Bischof Feodosij, setzte seinen eigenen „Hofstaat“ ein. Vater Nikolaij und Mutter Nina, liebevolle Bezeichnung in Tambow, durften ihre in vielen Jahren wieder aufgebaute Kirche nicht mehr betreten; die von 400 Kindern und Erwachsenen besuchte Sonntagschule lag nicht mehr in der Hand von der klugen Priestersfrau. Schriftliche Eingaben von Seiten der Gemeinde an das Moskauer Patriarchat wurden unzureichend beantwortet. Familie Toropzew stand buchstäblich auf der Straße. Krankheit und Verzweiflung in der Familie. Ein Moskauer Freund verschaffte Nikolaij Toropzew eine Arbeit in seiner Kirche. Die Bitten um ein Gespräch mit dem neuen Bischof blieben unerhört; „Ich bin mir keiner Schuld bewusst“, so sagte uns Vater Nikolaij bei einer der letzten Begegnungen in Tambow. Und dann die Katastrophe!

Der Tod von Alexej Navalnij am 16. Februar – auch er wurde von zahlreichen Menschen in Russland und im Ausland als eine Katastrophe empfunden. Er reiht sich ein in die zahlreichen nie geklärten Morde von Politikern und Journalisten, Morde an Priestern:  wie Alexander Men, der am 9. September 1990 auf dem Weg zu seiner 30 km entfernten Dorfkirche von hinten brutal mit einem Beil ermordet wurde. Der in der Nähe von Sagorsk (heute Sergiev Possad) lebende Priester war weit über seine Kirche hinaus ein geschätzter Geistlicher und Seelsorger, der auf die Fragen der Menschen einging, der zeitaktuelle Vorlesungen hielt, der sich vor allem dem ökumenischen Dialog öffnete. Die Ausstrahlung des jüdisch stämmigen Priesters und sein Einfluss wurden von den kommunistischen Machthabern als Bedrohung empfunden. Und so ließ ihn der KGB (heute FSB), der Geheimdienst, vermutlich durch antisemitische Kräfte zum Schweigen bringen.

Oder Anna Politkowskaja, engagierte Journalistin. Bis zu ihrer Ermordung am 7.10.2006 kannten nur diejenigen, die sich mit dem Tschetschenienkrieg befasst hatten, den Namen dieser mutigen Frau. Die Ermordung vor der eigenen Haustüre macht sie bis heute weltberühmt. In ihrem Buch „Meine Mutter hätte es Krieg genannt“ berichtet ihre Tochter Vera von ihrer Mutter, die als Investigativ-Journalistin rückhaltlos den russischen Machtapparat anprangerte. Ihre Mörder wurden zwar gefasst, aber die Hintermänner bis heute nicht ausgemacht.

Alle Moskau-Touristen lieben die Große Moskwa Brücke. Besonders am späten Abend hat man von dort einen faszinieren Blick auf das Kreml-Gelände, den Regierungssitz Putins. Und genau hier ging der mögliche Nachfolger Boris Jelzins, der sich dann aber für Putin entschied, Boris Nemzow, am Abend des 27. Februar 2015 mit seiner ukrainischen Freundin spazieren, als ihn die tödlichen Schüsse trafen. Auch er, im Laufe der Jahre vom Unterstützer Putins zu einem der schärfsten Kritiker besonders der Ukraine Politik geworden, positionierte sich im Wahljahr 2012 zum Hauptredner gegen Putins Wiederwahl. Auch in diesem Fall wurden vier tschetschenische mutmaßliche Mörder verurteilt. Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow gilt als mutmaßlicher Drahtzieher. Seine Soldaten zeichnen sich im Krieg Putins in der Ukraine durch besondere Grausamkeiten aus.

Wo bleibt der Solschenizyn Roman 2000, fragt Viktor Jerofejew, und verweist damit auf dessen berühmten Roman „Archipel GULAG“, durch den das Stalin-Regime gnadenlos demaskiert wurde. Im eigenen Land durfte der Roman erst 1990 erscheinen, während der Westen ihn bereits in den 70er Jahren lesen konnte.  Das bedeutete aber nicht, dass nicht zahlreiche Russen das Manuskript kannten. Im Samisdat Verlag wurde es von Hand zu Hand unter dem Titel „Reise durch flandrische Schlösser“ weitergegeben, erfahren wir von Irina Scherbakowa, Schriftstellerin und Kulturwissenschaftlerin, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde und inzwischen in Berlin lebt. Der Schriftsteller Viktor Jerofeew floh wie Scherbakowa, zu Beginn des Krieges nach Berlin und widmet sich in seinem Roman „Der große Gopnik“ dem „Hinterhofschläger“ (so die Bezeichnung von Putin) von St. Petersburg.

Mit der Gründung von “Memorial“1987, einer internationalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge, mit Glasnost und Perestroika hatte sich ein kurzes Zeitfenster für die russische Bevölkerung geöffnet, auf die Geschichte des eigenen Landes, der eigenen Familie zu schauen. Ende 2021 musste die Organisation ihre Arbeit einstellen wie inzwischen beinahe alle NGOs, die mit dem Ausland zusammenarbeiten. Das Aus der Zusammenarbeit mit der Behinderten Initiative Apparel in Tambow kam bereits 2013. Aktion Mensch hatte mit dem Kirchenkreis Programme für die juristische Beratung, gesunde Ernährung, körperliche Ertüchtigung junger behinderter Erwachsener unter großem Erfolg auf den Weg gebracht.

Das klingt nun alles nicht gut, und vielleicht möchten wir damit auch gar nichts zu tun haben. Aber als Verantwortliche für die über 30jährige Partnerschaft des Kirchenkreises mit der Metropolie Tambow dürfen wir die Augen davor nicht verschließen. Inzwischen teilt Patriarch Kyrill ja das Narrativ für die Invasion der Ukraine mit der politischen Führung und unterstützt sie in Wort und Tat. Eine Weigerung, sich an dieser Unterstützung zu beteiligen, empfindet die Leitung der ROK als persönliche Beleidigung ihres Oberhauptes und Bedrohung der kirchlichen Stabilität. Die inzwischen wachsende Zahl seiner Kleriker, die sich gegen den Krieg aussprechen, seine für alle Gottesdienste verordneten Gebete zum Krieg als einen „Heiligen Krieg“ nicht in die Liturgie aufnehmen oder das Gebet zu umschreiben, nimmt man in den Augen der Regierenden als gefährliche Diskreditierung wahr. Eine schwache Kirche wird dahinter vermutet, die keine Geschlossenheit in ihren Reihen gewährleisten könne und eine Bedrohung der Beziehung zwischen Kirche und Staat. (NÖK 21.3.24)

Es gibt immer mehr Geistliche, die auswandern. Da sie in der Regel keinen anderen Beruf als den des Priesters gelernt haben, stehen sie vor dem Nichts. Hilfe erfahren diese Priester in alltäglichen und juristischen Fragen durch die „brüderliche Hilfe“ aus Belarus. Seit kurzem gibt es das Projekt „Frieden für alle“, ein Projekt, das Mittel für den Lebensunterhalt Geistlicher sammelt, die aufgrund ihrer Antikriegshaltung in Not geraten sind. Bisher sind die Mittel des Projektes aber gering.

2019 fand die bisher letzte Begegnung in Tambow statt. die Wetzlarer Pilger*innen besuchten die Alexander- Nevskij- Kirche und das neue Orthodoxe Gymnasium als gern gesehene Freunde gerade beim Gottesdienst. Vier Geschwister aus der russisch-orthodoxen Gemeinde in Krofdorf waren dabei. Vater Alexander, ein vertrauter, über Jahre in liebevoller Erinnerung gebliebener Freund, lud Mönchspriester Kornelius aus der Krofdorfer Orthodoxen Gemeinde ein, mit ihm gemeinsam zu zelebrieren und die Kommunion auszuteilen. Das war nun ein absoluter Höhepunkt in den partnerschaftlichen Beziehungen seit 1992. Zum Schluss des Gottesdienstes lud er uns zu sich vor die Ikonenwand, und uns stockte der Atem, als er sagte: „Wir haben jetzt gemeinsam Gottesdienst gefeiert, und ich wünsche mir, dass wir eines Tages auch gemeinsam zum Empfang der Eucharistie gehen können – wann immer es Gott gefällt.“ Als Zeichen legte er uns das handtellergroße Abendmahlsbrot in die Hand und segnete uns.

Ursula Küppers, April 2024

 

Bild 1: Priester Nikolai Toropzew und Nina Toropzew 2005 (Foto Udo Küppers)

Bild 2: Vater Alexander und seine Familie 2007 (Foto Ursula Küppers)

Bild 3: Priester Alexander und Vater Kornelius (Krofdorf) teilen gemeinsam die Eucharistie in der Alexander-Nevskij-Kathedrale in Tambow aus. (Foto Udo Küppers)

Bild 4: Der erste Kinderchor in der Skorbjaschenskaja-Kirche Tambow (Foto Udo Küppers)

Bild 5: Christus-Erlöser-Kathedrale Moskau (Foto Udo Küppers)