Gedanken zum Krieg zu Beginn der sechsten Kriegswoche:

Das lese ich am 16. März in den sozialen Medien: „Ein kleines Mädchen trägt eine Blumenkrone in den Farben der ukrainischen Flagge. Der französische Fassadenkünstler C215 hat dieses atemberaubende Wandbild in Paris geschaffen, um die Menschen daran zu erinnern, welchen Tribut der Krieg für die Zivilbevölkerung fordert – insbesondere für Kinder. Unter dem Portrait ist ein Zitat des ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelensky: „Ich möchte nicht, dass meine Fotos in euren Büros hängen, denn ich bin weder Gott noch eine Ikone, sondern ein Diener der Nation. Hängt stattdessen die Fotos eurer Kinder auf und schaut sie immer an, wenn ihr eine Entscheidung trefft.“

Große Kinder sind es, die der russische Präsident in den Krieg gegen sein ‚Brudervolk‘ schickt. Und diese großen Kinder werden inzwischen von ihren Müttern gedrängt, nach Hause zu kommen. „Wer verweigert,“ so einer von ihnen in einem mitgehörten Telefonat bei Kiev, „kommt für acht Jahre ins Gefängnis, „wir kommen hier nicht weg. Wir holen uns die Munition der getöteten Ukrainer und schießen uns gegenseitig in die Beine, dann kommen wir ins Krankenhaus.“ (DLF 1.4. Berichte Sabine Adler). Immer mehr Menschen in Russland suchen inzwischen die Psychologischen Dienste auf, weil sie mit ihren Schuldgefühlen nicht mehr fertig werden und von einer großen Leere sprechen.

100.000 Heimkinder und Waisen sollen hier zusammen mit ihren Betreuer*innen, ein neues, sicheres Zuhause finden, so Anne Spiegel, Bundesministerin für Familie, Frauen, Senioren und Jugend in einer Pressekonferenz. Und dabei spielen die SOS Kinderdörfer eine wichtige Rolle als aus ihrer Entstehungsgeschichte erfahrene Organisation, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Herrmann Gmeiner ins Leben gerufen wurden, um eben solchen, vom Krieg betroffenen Kindern Schutz und Geborgenheit zu geben (Phoenix Pressekonferenz 30.3.22)

Der ukrainische Präsident träumt gar von dem Tag, an dem die ukrainischen Flüchtlinge wieder zurück in ihr Land kommen und die Ukraine mit der Europäischen Union vereint sein wird. Da klingt etwas an, das wir 1989 und in den darauffolgenden Jahren schon einmal hörten: das gemeinsame europäische Haus! Die Vision des damaligen russischen Präsidenten Michail Gorbatschow, die so viele Institutionen und Initiativen zur Zusammenarbeit motivierte und die 2001 durch Bundeskanzler Gerhard Schröder und Präsident Wladimir Putin in der Gründung des Petersburger Dialogs, einem deutsch-russischen Forum der Zivilgesellschaften, als große Chance für beide Länder gesehen wurde. Inzwischen gibt es allerdings in diesem „einen Haus“ Unstimmigkeiten in den Fragen der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit, der Meinungs- und Pressefreiheit, der demokratischen Strukturen, und wir stellen fest, dass die einst von allen akzeptierte Hausordnung nicht mehr respektiert wird und die russische Seite ganz andere Ziele verfolgt. Und dazu gehört auch die brutale Gewalt, mit der sie sich zusätzlichen Wohnraum aneignet. Hat die europäische Außenpolitik in den vergangenen 20 Jahren die Vision vom gemeinsamen Haus Europa vernachlässigt? (31.3.22 Christian Wolff).

Es gibt sie, die Menschen, die diese Vision leben und die unermüdlich Brücken zwischen Deutschland und Russland bauen. „Jeden Morgen, wenn ich aufwache, hoffe ich, dass der Krieg aus ist,“ sagt Valeria aus B. am Telefon. „Und weißt du was, Zelensky gefällt uns jungen russischen Menschen. Er sagt die Wahrheit und hat keine Angst.“ Der Studentin aus Tambow ist es ein Bedürfnis, sich immer wieder den Demonstrationen anzuschließen, mit ihren ukrainischen Freunden zu diskutieren, sich mit ihrem in Tambow lebenden Vater auszutauschen, der als einziger am Arbeitsplatz seine Antikriegshaltung nicht versteckt. „Putin zerstört nicht nur das Leben der Ukrainer, sondern auch das seiner Bevölkerung, und er macht auch einen Teil meines Lebens kaputt“, teilt mir Genia aus E. am Telefon mit. Sie kam vor 20 Jahren aus Tambow nach Wetzlar und  weiß überhaupt nicht, ob sie jemals wieder zu ihrer Familie nach Russland kann. Und Katja aus G. schildert mir die Gespräche mit Ihrer Mutter  und der Oma in Tambow, deren kontroverse Ansichten zum Krieg sie von hier aus zu beschwichtigen, zu erklären versucht. Und das kann ich mir dann gut vorstellen, wenn ich Wladimir Kaminer in einer Phoenix Runde am Abend höre „dieses Fernsehen ist eine scharfe Waffe, eine mächtige Kanone, die vor keinem Kopf Halt macht, egal ob prominent oder nicht“, und das Leben seiner eigenen Mutter schildert, die seit 30 Jahren in Berlin lebt, die deutsche und englische Sprache spricht, aber ausschließlich russisches Fernsehen schaut, und wie dieses Fernsehen die schönen alten russischen Filme immer wieder an den spannendsten Stellen unterbricht mit Bildern und Berichten über die „Spezialoperation“ in der Ukraine und deren dringend notwendige „Entnazifizierung“.

Von den inzwischen auf ca. 15.000 angewachsenen toten russischen Soldaten wird hier nicht gesprochen. „Die Russen suchen krankhaft nach jeder Möglichkeit, nicht daran zu glauben“, so Wladimir Kaminer.

Der Realität ins Auge sehen, das taten jetzt mehr als 800 orthodoxe Theologinnen und Theologen in einer Erklärung des „Orthodox Christian Studies Center“ in New York mit einem Protestbrief an Patriarch Kyrill: „Die Lehre, dass es eine transnationale russische Zivilisation eines „Heiligen Russlands“ gebe, die unter dem Moskauer Patriarchat, das in „Symphonie“ mit dem russischen Staatsführer Putin zusammenarbeite, um Moral, Kultur und Spiritualität aufrechtzuerhalten, sei „zutiefst falsch, unorthodoxe, unchristlich und gegen die Menschheit gerichtet.“ „Die Kirche höre mit dieser Haltung auf, „die Kirche des Evangeliums von Jesus Christus“ zu sein (Die Tagespost 22.3.22). Ebenso ablehnend reagiert der Arbeitskreis Orthodoxer Theologinnen und Theologen im deutschsprachigen Raum in seiner Stellungnahme: „Als orthodoxe Theologinnen und Theologen nehmen wir mit Entsetzen wahr, wie unser Glaube und das Wort Christi missbraucht und zu Propagandazwecken instrumentalisiert werden können“ (18.3.22 Domradio).

Papst Franziskus wendete sich an den russischen Präsidenten und betete in einem seiner Mittagsgebete: „In Gottes Namen bitte ich euch: beendet dieses Massaker!“ Dabei verurteilte er „Barbarei und inakzeptable bewaffnete Aggression“, die „ganze Städte in Friedhöfe“ zu verwandeln drohe (19.3.22 Domradio).

Die Evangelische Kirche in Deutschland verurteilt den russischen Angriff auf die Ukraine:„Es kommt auf uns an, den leidenden Menschen in der Ukraine, den verängstigten Menschen in unseren Nachbarländern, unsere Solidarität zu zeigen, keine billige, sondern eine, die uns etwas kostet. Es kommt auf uns an, den Menschen in Russland, die sich gegen den Krieg stellen, unsere Achtung zu bezeugen. Es kommt auf uns an, den Menschen, die flüchten, zu helfen und ihnen Wege zu öffnen, damit sie ihr Leben retten können.“, so die Ratsvorsitzende der EKD, Annette Kurschus (EKD Newsletter 1.4.22)

Nicht zu überhören ist die Stimme von Olena Zelenska, die als Landesmutter  für ihr Volk eintritt und sich in einem eindringlichen Brief um Hilfe an den Ökumenischen Rat der Kirchen wendet. „Ich schreibe Ihnen nicht als First Lady, sondern als ukrainische Frau, als Mutter und Ehefrau. Dies ist nicht einmal ein Brief, sondern die Stimme meines Schmerzes, der sich in diesen Tagen des Krieges angesammelt hat….Ja, Massengräber sind in diesen zwei Wochen in der Ukraine aufgetaucht. Wir leben im 21. Jahrhundert und meine Hand weigert sich, dies zu schreiben, meine Augen weigern sich, es zu lesen…Mit Glauben und der Hoffnung auf Frieden, und mit der Liebe, die sicher über den Tod siegen wird – Olga Zelenska“ (19.3.22 Brief der First Lady der Ukraine an den Ökumenischen Rat der Kirchen).

Mit dem kommenden Sonntag, dem 3. April, beginnt in den orthodoxen Kirchen die Woche der Kreuzverehrung, eine Woche  des strengeren Fastens als in den vergangenen. An allen Tagen der Woche wird das Kreuz verehrt. Am Freitag wird bei der Vesper das Kreuz in den Altarraum  getragen. Zahlreiche Väterworte und Gebete begleiten die Gläubigen durch diese Wochen bis zum Ende der 40 Tage.

 

Ein annehmbares Fasten lasst uns halten,

das dem Herren wohlgefällig ist.

Denn wahres Fasten

ist das Fliehen vor der Sünde,

ist Beherrschung der Zunge,

ist Enthaltung vom Zorn,

ist Abwehr von Begierden,

ist Abstehn von übler Nachrede, von Lüge und von Meineid.

Sieh’, die Enthaltung von all’ diesem

ist wahres und wohlgefälliges Fasten.

 

(Die große Fastenzeit Teil 1, www.orthodoxe-ikone.de).

 

Ursula und Udo Küppers , Vorsitzende des Osteuropa Ausschusses, 1. April 2022

 

Bild 1: Die Kirche von Sumarokowo, für deren Wiederaufbau des Glockenturmes im vergangenen Jahr vom Osteuropa Ausschuss Spenden gesammelt wurden (Foto: Udo Küppers)

Bild 2: Im Klostergelände von Sumarokowo bei Moskau: das Kreuz auf Golgotha steht auf der Kampflinie des Zweiten Weltkrieges, die mitten durch das Klostergelände ging. Hier werden Gedenkgottesdienste gefeiert.