Diese Predigt über das alttestamentliche Buch Ruth zum Sonntag, 28. Juni, stammt von Manuela Bünger, Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinden Dorlar und Atzbach. Das Thema lautet:

Eine neue Tür öffnet sich – oder: Wie für Ruth ein neues Leben begann (Ruth 1-4)

 

Liebe Gemeinde,

vor Kurzem las ich folgenden Text mit der Überschrift:

Türen

Türen, an denen zu klopfen war,

Türen, durch die ich hineingerufen wurde,

Türen, vor denen ich gewartet habe,

Türen, die zufällig geschlossen waren,

Türen, die mit Absicht verschlossen blieben,

Türen, die sich nie mehr geöffnet haben,

Türen, von denen ich den Schlüssel verloren habe,

Türen, vor denen ich zitterte vor Angst,

Türen, hinter denen mich Frohes erwartete,

Türen, hinter denen Prüfungen standen,

Türen, die hinter mir zuflogen,

Türen, hinter denen mehr war, als ich je ersehnte,

Türen, hinter denen nichts war,

Türen …

 

Ja, wir gehen in unserem Leben symbolisch gesehen durch viele Türen. Manche bleiben uns sogar für immer im Gedächtnis. Ich denke z.B. an Situationen, in denen uns etwas besonders gut gelungen ist und uns eine geöffnete Tür zum ersehnten Erfolg brachte. Oder dass uns ein Mensch seine Herzenstür öffnete und sich dadurch eine tiefe und intensive Freundschaft oder gar eine Liebesbeziehung fürs Leben ergab. Tür-Erfahrungen können andererseits auch „unter die Haut gehen“. Denken wir z.B. an bestimmte Prüfungssituationen oder auch an Augenblicke, in denen wir uns wie eingesperrt fühlten und die Tür sich nicht mehr öffnen ließ – vielleicht, weil wir von einer schlimmen Krankheit erfahren haben oder vom Tod eines lieben Menschen.

Auch in diesem besonderen von der Pandemie gezeichneten Jahr haben sich für viele Türen geschlossen – ganz konkret und auch im übertragenen Sinn. So wurden Schul- und Bürotüren zeitweilig nicht geöffnet und „Homeoffice“ bzw. „Homeschooling“ wurden zu den meist gebrauchten Worten 2020.

Viele Firmen und Werke mussten sich auf die Situation einstellen lernen und bisherige Wege und Pläne ändern.

Und mancher empfindet vielleicht auch jetzt die bevorstehende Urlaubszeit so als wäre eine Tür versperrt worden, hatte man doch ursprünglich vor, ins Ausland zu fliegen und muss nun hier im eigenen Land die Erholung suchen. Darüber kann man sich ärgern und beklagen, ja, aber vielleicht entdeckt man auch: „Wo sich die eine Tür schließt, öffnet sich möglicherweise eine andere, die man vorher noch nie gesehen hat!“

Vielleicht hilft uns dieses Jahr 2020 ja dazu, uns Dinge im Leben wieder bewusster vor Augen zu führen, z.B. auch den humorvoll, aber doch tiefgründigen Gedanken:  „Wer ständig versucht, sich immer alle Türen offen zu halten, wird sein Leben auf dem Flur verbringen.“

Das Geheimnis der offenen Tür ist, dass sie am häufigsten vor uns auftaucht, wenn wir unsere Jagd nach unserem eigenen Fortkommen aufgeben. John Ortberg, ein amerikanischer Theologe und Publizist hat das so ausgedrückt: Die Liebe findet Türen, die der Ehrgeiz niemals erkennt.

Wir wollen uns nun einer biblischen Person zuwenden, die genau das erfahren hat. Ihre Lebensgeschichte kann uns ermutigen, gerade auch in schwierigen und verworrenen Zeiten wie diesen nach der offenen Tür und den neuen Möglichkeiten zu suchen, die Gott für uns ja immer noch bereithält.

Ich spreche von Ruth, einer damals noch jungen Frau, der im AT ein ganzes Buch mit 4 Kapiteln gewidmet ist. Und dieses Buch beginnt dann auch gleich sehr dramatisch:

„Zu der Zeit, als die Richter in Israel regierten, verließ ein

Mann aus Bethlehem in Juda das Land, weil eine Hungersnot

ausgebrochen war“ (Ruth 1,1).

Mitten in der Hungersnot gibt es eine kleine Familie – Elimelech und Noomi und ihre zwei Söhne, Machlon und Kiljon -, und sie alle werden verhungern. Also verlassen sie ihre Heimat und gehen in ein Land Namens Moab.

Nun war leider das Verhältnis von Moab und Israel von einer äußerst problematischen Vergangenheit geprägt. Die Angst voreinander führte immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen und auf beiden Seiten war man auf Abgrenzung bedacht. Trotz der räumlichen Nähe war man sich fremd geblieben, so fremd wie man sich eben ist, wenn man unter dem Einfluss eines Feindbildes steht.

Aber Gott sei Dank ist auf der Ebene von Mensch zu Mensch doch oft mehr möglich, als die offizielle Politik propagiert. Auch in Moab gab es Leute, denen die Herkunft dieser fremden Familie nicht so wichtig war. Sie sahen die Not und waren bereit, sie unter sich heimisch werden zu lassen. Die jüdische Flüchtlingsfamilie wird aufgenommen und darf bleiben. Die Kinder lernen wieder spielen und fröhlich sein, sie wachsen heran mit moabitischen Freunden, und als die Zeit reif war, gab es auf keiner Seite Bedenken, dass Ruth und Orpa, zwei junge Moabiterinnen, Kiljon und Machlon, die beiden Flüchtlingssöhne, heirateten.

Doch leider war das Glück nur von kurzer Dauer. Elimelech, Noomis Mann, wird krank und stirbt. Das ist ein schwerer Schlag. Ein wenig Trost sind ihr dabei sicher ihre beiden Söhne. Sie sind zwar längst verheiratet und brauchen sie nicht mehr so wie früher, aber immerhin, sie sind doch so etwas wie ein Stück Heimat für Noomi in der alten und neuen Fremde.

Wer die Namen der beiden Söhne in ihrer Bedeutung versteht, wird jedoch das Verhängnis ahnen, das sich anbahnt. Machlon und Kiljon, „Schwächlich“ und „Gebrechlich“, sterben innerhalb kurzer Zeit ebenso. Nun hält Noomi nichts mehr. Aus dem Land des Überlebens ist ihr ein Land des Todes geworden. Dort kann sie, dort will sie nicht mehr bleiben. Da ist nicht nur die Versorgungsfrage „Wer kümmert sich um alt- und krankgewordene Ausländer?“, auch die Sehnsucht nach Altvertrautem, vielleicht auch nach glücklicheren Erinnerungen treibt sie zurück. In Bethlehem, so hat sie erfahren, gibt es längst auch wieder Brot. Das ist die Andeutung einer winzigen offenen Tür.

Noomis Schwiegertöchter Orpa und Ruth gehen mit ihr. Sie verlassen die kleine moabitische Stadt, in der sie leben, und machen sich auf den Weg. Doch als sie aus der Stadt kommen, bleibt Noomi stehen und sagt zu den jungen Frauen: „Geht lieber zurück nach Hause zu euren Müttern. Der Herr vergelte euch eure Liebe, die ihr euren verstorbenen Männern und auch mir entgegengebracht habt. Er schenke jeder von euch ein neues ruhiges Zuhause in einer zweiten Ehe“ (Ruth 1,8-9). Nach dieser kleinen Rede gibt sie ihren Schwiegertöchtern einen Kuss und alle miteinander weinen. Es ist eine herzzerreißende Szene. Noomi hat nichts mehr, was sie ihren Schwiegertöchtern geben könnte. Sie kann ihnen nicht helfen. Sie kann ihnen nichts weiter schenken als die Befreiung von der Bürde, für sie sorgen zu müssen und das tut sie. Sie sagt: „Ihr habt bessere Chancen, einen Ehemann zu finden, wenn ihr hierbleibt.“ In dieser Kultur ging es beim Heiraten nicht nur um Romantik. Es ging ums Überleben.

Erstaunlicherweise weigern sich die Schwiegertöchter, Noomi zu gehorchen. Also versucht Noomi es noch einmal. „Kehrt lieber um…“ Als Noomi sie dann noch einmal beschwört, doch an sich selbst zu denken, in ihrer Heimat zu bleiben und dort neues Glück zu suchen, da brechen sie noch einmal in lautes Weinen aus, und Orpa küsst ihre Schwiegermutter zum Abschied. Ruth jedoch besteht darauf, bei Noomi zu bleiben” (Ruth 1,13-14).

Man beachte, dass es zwei Schwiegertöchter in dieser Situation gibt. Zwei Türen: Auf einer steht „bleiben” und auf der anderen „gehen“. Und es wird ohne Bewertung festgestellt: Orpa bleibt, Ruth geht mit.

Vier Mal in diesem kurzen Abschnitt sagt Noomi zu Ruth „Kehr um”, und Ruth muss sich entscheiden, welche Tür sie wählt, ihr weiteres Leben wird davon abhängen. Und von dieser jungen Frau – dieser mittellosen, heidnischen, verwitweten Moabiterin – kommt nun eine der größten Liebeserklärungen der ganzen Bibel, wenn nicht sogar der gesamten Menschheitsliteratur:

„Wo du hingehst, dort will ich auch hingehen, und wo du lebst, da möchte ich auch leben. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da will ich auch sterben und begraben werden.“ (Ruth 1 ,16-17). Unglaublich schön.

Diese Worte sind nicht nur Ausdruck tiefster Verbundenheit zur Schwiegermutter, sondern zeigen auch Ruths Hinwendung zu dem Gott Israels. Ausgerechnet nach so vielen schweren Schicksalsschlägen bekennt sie sich zu Gott. Da, wo andere jeden Gott in Frage stellen würden, macht sie sich an einem ihr eigentlich fremden Gott fest. Es kann aber auch sein, dass Ruths Bekenntnis zu Noomis Gott zunächst nur durch die Liebe zu Noomi motiviert ist und sich erst später mit eigener Erfahrung füllt. Wie dem auch sei, bemerkenswert ist, dass sie bereits in Gottes Geist (in Gottes Sinn) handelt. Ihre Liebe zu Noomi bewirkt, dass eine zum Aussterben verurteilte jüdische Familie am Ende nicht ausstirbt.

Ruth ahnt es noch nicht, aber die Entscheidung, die sie getroffen hat, wird eine Tür vor ihr öffnen, die es ihr ermöglicht, in einer Geschichte „mitzuspielen“, die viel größer als alle ihre Träume. An ihren Namen wird man sich noch Jahrtausende später erinnern. Das war natürlich nicht ihr Beweggrund, sie entschied sich hier nur für die Gelegenheit zu lieben.

Im zweiten Kapitel sind Ruth und Noomi bereits in Israel angekommen. Nun ist Ruth diejenige, die fremd ist, vielleicht ist sie sich auch selbst noch fremd in diesem neuen Leben ohne Ehemann, ohne jegliche Sicherheit im Blick auf das, was kommt.

Ruth macht jedoch die Erfahrung, dass Gott ein Herz für alle Fremden hat. Sie hat Glück. Sie macht von ihrem Recht auf Nachlese Gebrauch und es fügt sich, dass sie dabei an den Acker eines Mannes gerät, der dieses Recht auch tatsächlich respektiert und sich dann auch noch als ein verwandter Noomis entpuppt. Und jetzt beginnt sich die Tür zu öffnen.

Boas, so heißt der Mann, dem der Acker gehört, kommt zu Ohren, was Ruth hier tut, nämlich für sich und Noomi Essen zu sammeln. Ihr Charakter bewegt ihn. Und so nimmt er sie zur Seite und sagt: „Wenn du jeden Tag aufs Feld gehst, dann sammle nur auf meinem Feld die Ähren ein. Ich habe meine Männer angewiesen, dich nicht anzutasten. Ich weiß, dass eine arme, schwache Witwe leicht angreifbar ist, also habe ich den Kerlen gesagt, sie sollen nett zu dir sein. Und wenn du Durst hast, dann sollen die Männer dir Wasser zu trinken geben.“

Dazu muss man wissen: In der damaligen Welt und auch heute noch in vielen Ländern ist das Wasserholen schwere Arbeit – und Frauenarbeit. Frauen holen das Wasser für die Männer und nicht umgekehrt.

Weil Rut freundlich mit Noomi umgegangen war, geht nun Boas auch freundlich mit ihr um. In der ganzen Geschichte bieten sich immer wieder Möglichkeiten, freundlich mit jemandem umzugehen, der „fremd“ ist – also über die Grenzen dessen hinweg, was die betreffenden Personen normalerweise voneinander trennen würde. Dabei beginnen sie, einander in einem neuen Licht zu sehen.

Türen öffnen sich, wenn ich tatsächlich Menschen wahrnehme, die ich vielleicht andernfalls übersehen würde, und mich um sie kümmere.

John Ortberg erzählt von einer Frau, die in einer schlechten Nachbarschaft aus Versehen ihre Schlüssel im Auto eingeschlossen hatte. Sie versuchte, mit einem Kleiderbügel in ihr eigenes Auto einzubrechen, doch das funktionierte nicht. Schließlich betete sie: „Gott, schick mir jemanden, der mir hilft!“ Fünf Minuten später hielt ein rostiges altes Auto neben ihr an. Ein tätowierter, bärtiger Mann mit einem Totenkopf-Tuch um den Kopf kam auf sie zu. Sie dachte: Gott, ist das dein Ernst? Der? Aber sie war verzweifelt.

Als der Mann sie fragte, ob er ihr helfen könnte, bat sie ihn: „Können Sie in mein Auto einbrechen?“ Er sagte: „Kein Problem.“ Er nahm den Kleiderbügel und öffnete das Auto binnen weniger Sekunden. Sie sagte zu ihm: „Sie sind ein sehr netter Mensch!“, und umarmte ihn herzlich. Er erwiderte: „Ich bin kein netter Mensch. Ich bin gerade heute aus dem Gefängnis gekommen. Da habe ich zwei Jahre wegen Autodiebstahls eingesessen und bin erst seit ein paar Stunden wieder draußen.“ Sie umarmte ihn noch einmal und rief: „Danke, Gott, dass du mir einen Profi geschickt hast!“

Offene Türen finden sich überall, jeden Tag, Und wenn wir Gottes Führung folgen, dürfen wir seinen Segen erleben.

Als Noomi von Boas’ gütigem Verhalten erfährt, ist sie beeindruckt und hat eine Idee. Sie denkt: Vielleicht gibt es in Boas’ Herz noch mehr als nur Mitgefühl und Großzügigkeit. Also sagt sie zu Ruth: „Geh noch einmal zu Boas, und zwar dieses Mal in der Nacht.“ Außerdem rät sie ihr: „Nun nimm ein Bad, parfümiere dich und zieh dein schönstes Kleid an“ (Ruth 3,3).

Man könnte auch sagen: Noomi gibt Rut Tipps für ein Rendezvous! Bedenken wir, dass es damals in Israel noch keine Zeitschriften mit Artikeln zu diesem Thema gab – also mussten entsprechende Ratschläge mündlich weitergegeben werden. Ruth beherzigt Noomis Vorschläge und lädt dann Boas entsprechend der Symbolik ihrer Zeit nachts ein, damit er sie mit seinem Mantel zudecken kann. Im Prinzip macht Ruth Boas einen Heiratsantrag. Und Boas versteht das, und ist zutiefst bewegt.

Es ist eine wunderschöne Geschichte, unter anderem auch deshalb, weil Rut und Boas sich vom Charakter des jeweils anderen angezogen fühlen und beide haben schon einiges hinter sich. Noch sind einige Rechtsverhandlungen nötig, um dem Verhältnis mit Ruth den rechtlich gesicherten Rahmen einer Ehe zu geben. Und tatsächlich: die Sache wird positiv entschieden. Boas und Ruth heiraten und bekommen einen Sohn. Noomi wird für den Jungen wie eine zweite Mutter.

Ja, Herzen mit offenen Türen findet man am besten, wenn man einfach Liebe praktiziert.

Und vergessen wir nicht: Jedes Herz hat eine Tür. Wenn ein Mensch uns diese Tür seines Herzens öffnet, ist dies eines der größten Geschenke im Leben.

Ein letztes kleines Detail. Etwas, was jeden Israeliten überraschen wird, der es liest. Ruth und Boas bekommen einen Sohn und sie geben ihm den Namen Obed. Und Obed bekommt später einen Sohn Namens Isai. Die letzten Worte im Buch Ruth lauten: „lsai war der Vater von David“ (Ruth 4,22). Eine Moabiterin also, eine Heidin ist die Urgroßmutter von dem berühmten König David. Er ist sozusagen auch nicht nur Jude von seiner Abstammung her. Ruth begab sich also in den Segensbereich Gottes, ohne zu ahnen, was alles daraus würde.

Und mehr noch: Aus dem Geschlecht Davids kommt der verheißene Messias und so kommt Ruth, diese Angehörige eines israelfeindlichen Volkes folgerichtig auch im Stammbaum Jesu vor. Jesus hatte also auch ein winziges Stück Moabiter in sich. Ruts Geschichte wird zur Geschichte von Jesus.

Immer, wenn wir durch eine offene Tür gehen, vermischt sich unsere Geschichte mit der Geschichte Gottes, und wir werden in das eingebunden, was Gott in dieser Welt tut. Und wer weiß, was eines Tages von diesem schwierigen Jahr 2020 und von deinem Leben ausgegangen sein wird.

Drum lasst uns nach der offenen Tür Ausschau halten.

Amen.