80 Jahre nach der Predigt Pfarrer Friedrich Winters zu Daniel 9, Verse 4 bis 6 und 18:

 

Der Friede Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen.

Amen.

 

Ein Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf:

Im letzten Jahr haben wir unseren Gemeindeausflug in den Hessenpark gemacht. Dabei konnten wir auch eine der Synagogen im Park besuchen. Der Gottesname, JHWH, vier hebräische Buchstaben, stand dort auf einem Balken. Vier Buchstaben so heilig, dass man sie nicht aussprechen kann, so heilig, dass auch Luther in seiner Übersetzung an ihrer Stelle immer HERR schreibt, so gegenwärtig ist in diesen Buchstaben die ganze Geschichte dieses Gottes, wie er Mose aus dem Dornbusch heraus seinen Namen sagt: Ich werde sein, der ich sein werde. Ich bin der: Ich bin da.

So heilig, so gegenwärtig der Gott, der mit Abraham seinen Bund schließt. Diese vier Buchstaben standen auf einem Balken in der Synagoge, so wie sie in vielen Kirchen im Schalldeckel der Kanzel stehen, z.B.  in Tiefenbach. Es ist nicht irgendein Gott, es ist auch unser Gott. Es geht nicht um irgendwen, es geht auch um uns. Denn in Jesus Christus ist der lebendige Gott Abrahams auch unser Gott. Sein Name steht da, damit klar ist, in wessen Namen wir überhaupt da sind, damit klar wird, warum es uns überhaupt gibt.

Und hier –in der alten Synagoge – waren diese heiligen Buchstaben mit Stemmeisen herausgebrochen.

Geschehen am Abend des 9. November 1938.

Demaskiert. Sie legen Hand an Gotteshäuser, an den Gottesnamen, an Gott selbst. Demaskiert. Entfesselte Gewalt, sie macht vor nichts Halt, vor gar nichts. Nichts ist ihr heilig. Gar nichts.

Erschüttert stand ich vor diesem Bild – es gibt viel schrecklichere Bilder, Bilder, deren Grauen man nicht fassen kann. Hier konnte ich es fassen – zum ersten Mal begreifen: Es waren nicht nur blinder ‚Volkszorn‘ und aufgewiegelte Massen, die in dieser Nacht entfesselt wurden; es war systematische, geplante, abgrundtiefe Gottlosigkeit.

Nur wenige haben damals etwas zur Reichspogromnacht gesagt. Offizielle Stellungnahmen der Kirchen gab es nicht. Jeder Pfarrer wurde mit seinem Gewissen und seiner Haltung allein gelassen. Pfarrer Friedrich Winter hat am Buß- und Bettag hier in Kölschhausen eine Woche nach der Pogromnacht etwas dazu gesagt:

„Die Mächte der Finsternis herrschen, dämonische Gewalten, weil es (das Volk) von Gott abgefallen ist.“

Winter nimmt die Gemeinde oder die „Christenheit“ aus diesem vernichtenden Urteil nicht heraus. Er liest:

 

Dan 9, 4 – 6.18

 

Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden. (V5)

Wir haben gesündigt. Daniel sieht Jerusalem in Trümmern, das Volk ins Exil verschleppt und sagt nicht: Ich hab es euch ja gesagt, aber ihr habt nicht gehört. Ihr habt Schuld! Er sagt: Wir haben gesündigt!

„Wir haben gesündigt“, so bekennt auch Friedrich Winter 1938. „Wir sehen mit Schmerzen den Unglauben. Wir erkennen und bekennen, dass wir, die Gemeinde, daran schuldig und mitschuldig geworden sind durch unseren eigenen Unglauben.“

 

Was hat das alles mit uns, 80 Jahre später zu tun?

Wieder sehen wir Fackelzüge durch Europäische Hauptstädte ziehen, Regierungen an der Seite Rechtsextremer; wieder wird die Forderung nach hartem Durchgreifen, einer starken Regierung laut; Regierungen fordern: das eigene Land zuerst – oder, wie wir es besser kennen: das eigene Land, das eigene Land über alles. Ungebremste Aggression, Unzufriedenheit und Wut auf den Straßen und – auch wieder in den Parlamenten.

Und dann, 100 Jahre nachdem der erste große Krieg endlich zu Ende war, steht einer auf und sagt: An dem Festakt in Frankreich hätte Deutschland besser nicht teilgenommen.

Klimawandel. Auch im Umgang miteinander. Die weltweiten Themen und Probleme sind längst bekannt, doch anstatt sie gemeinsam anzugehen, ziehen wir uns zurück auf – Eigenständigkeit und Nation?

Irgendwie kopflos, haltlos suchen wir in alten Konzepten alten Halt.

Sind wir noch zu retten?

Bleiben wir noch einmal bei dem Bild vom Anfang. Der Gottesname, so zugerichtet. Gott selbst gemartert und zerschlagen.

Der Mensch will diesen Gott loswerden. Das war immer schon so. Quer durch alle Zeiten. Wir wollen diesen Gott loswerden, weil er uns so nahe kommt, weil uns bewusst wird, wer wir sind, wenn wir ihn sehen: Leute, die groß aufdrehen, um wer zu sein, aber in Wirklichkeit nichts aber auch gar nichts aus sich selbst machen können. Stehen wir vor Gott, sehen wir, dass wir angewiesen sind, abhängig. Wir können uns nicht selbst schaffen, wir können uns nicht selbst die Kraft geben, wir können uns nicht selbst im Leben halten.

Das, was wir da sehen, nennt die Bibel Sünde: Uns wird bewusst, dass wir nur Menschen sind und eben nicht Gott, uns wird klar, wie weit wir von Gott entfernt sind. Ich glaube, das ist der eigentliche Punkt. Wir wollen nicht wahrhaben, wie klein wir wirklich sind, darum wenden wir uns ab, sehen lieber nicht auf Gott und versuchen ihn loszuwerden. Welche Wucht, welchen Sturm von Aggression und Gewalt es freisetzt, selbst wer sein zu wollen, das sehen wir quer durch die Geschichte der Menschheit bis heute.

„Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden.“ (V. 5)

Wir wollen Gott loswerden; aber Gott lässt sich nicht loswerden. Er ist nicht totzukriegen. Er ist das Leben selbst.

Gerade wir als Christinnen und Christen sollten das wissen: Jesus Christus, Gott selbst gemartert und zerschlagen, auferstanden von den Toten. Gott lässt sich nicht aus unserem Leben drängen, er kommt zurück ins Leben.

Was ist also zu tun? Wir können entweder weiter so tun, als wären wir die Herren der Welt, können uns unsere eigene Wirklichkeit und Wahrheit bauen und müssen an den Stellen, an denen zuweilen durchscheint, dass es mit unserer Kraft doch nicht so weit her ist, dann einfach mit Wut und Macht und notfalls mit Gewalt die Lücken stopfen, so dass nicht auffällt, was der Mensch in Wirklichkeit ist.

Oder wir fangen an, uns der Wirklichkeit zu stellen. Wir fangen an, hinzugucken, wahrzunehmen, was der Mensch wirklich ist:

In Wirklichkeit sind wir Wesen, die dazu gemacht sind, in Beziehung zu leben. In Wirklichkeit sind wir Leute, die angewiesen sind darauf, dass da jemand ist, der sich um uns kümmert. In Wirklichkeit brauchen wir einander, wir brauchen menschliche Zuwendung, wir brauchen göttliche Fürsorge.

Und so verstehe ich jede Fackel und jede skandierte Hassparole als einen fehlgeleiteten Ruf nach Aufmerksamkeit und Zuwendung. Vielleicht ist das zu einfach gedacht, aber ich glaube, wenn es um die eigentlich wichtigen Themen geht, ist der Mensch ganz einfach: Wo komme ich her, wo gehe ich hin, wo habe ich Halt, wo darf ich sein, wo kann ich mich fallen lassen, was bin ich wert?

Wir brauchen menschliche Zuwendung, wir brauchen göttliche Fürsorge.

Ich glaube, dass ist der eigentliche Sinn des Buß- und Bettags, dass wir uns genau das klar machen: So stehe ich vor Gott. Ich brauche dich, sonst bin ich nicht. Das ist das Wohltuende und Klärende dieses Tages: Wir stellen uns der Wirklichkeit.

Und dann, dann können wir mit Daniel, mit Friedrich Winter, mit den Menschen quer durch die Zeiten, quer durch die Welt sagen:

„Denn wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“ (V18)

Gott lässt sich nicht aus unserem Leben herausreißen, er kommt zurück ins Leben. Auch wir sollen leben, wirklich und echt. Wir dürfen zugeben, dass wir einander brauchen, wir dürfen zugeben, dass wir Gott brauchen. Das ist keine Schwäche, das ist wahr.

 

(Hermann Klugkist Hesse) Ein Zeitgenosse Winters fragt: „Hätten wir nicht ganz anders Licht und Salz sein müssen?“

Licht und Salz für diese Welt sind wir, glaube ich, dann, wenn wir wirklich leben: Klar und deutlich vor Gott stehen und uns einander zuwenden. Göttliche Fürsorge, menschliche Zuwendung. Wir sind dazu da, Salz in die offene Wunde der Selbstherrlichkeit zu geben, wir sind dazu da, die brüchigen Stellen der Allmachtsphantasien offen zu halten, damit das Licht durch die Ritzen brechen kann. Wir sind dazu da, dass die Welt sieht und begreift, wie verletzlich, wie zart und fein sie ist, wie angreifbar, wie schnell zerstört. Wir sind dazu da, die Welt in Gottes Licht zu sehen. Dabei sind und bleiben auch wir Teil dieser Welt. Dabei müssen auch wir jeden Tag und jeden Moment neu die Haltung von Daniel üben:

„Denn wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“

Amen.

 

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

 

 

Die Predigt Pfarrer Friedrich Winters vom 16. November 1938 liegt aus dem handschriftlichen Original transscribiert und mit Zusätzen aus einer Nachschrift von 1945 versehen vor.

Im Friedrich-Winter-Gemeindehaus in Kölschhausen wird sie seit der Namensgebung im Jahr 1999 im kleinen Saal ausgehängt.

 

Hermann Klugkist Hesse zitiert nach: Manfred Gailus, Das große Schweigen. Wie sich die Kirchen verhielten, als im November 1938 die Synagogen brannten, in: Zeitzeichen Jg 19, 11/2018, 45 – 47, Zitat S. 46.

 

Tanja Kamp-Erhardt, Pfarrerin in Kölschhausen[vc_single_image image=”6264″ img_size=”full”]Hat seit 1999 ihren Platz im Friedrich-Winter-Gemeindehaus in Kölschhausen: Die Predigt von Pfarrer Friedrich Winter am Buß- und Bettag 1938.