Ernst von der Recke, Vorsitzender des Arbeitskreises Frieden im Evangelischen Kirchenkreis an Lahn und Dill, bezieht Stellung zum Artikel aus dem aktuellen Wetzlar-Kurier, Nr.8,39. Jahrgang, August 2020, Seite 2. „Der gigantischen russischen atomaren Aufrüstung setzen Bürgermeister ‚Friedensflagge‘ entgegen“ lautet die Überschrift.

„Deshalb“ so der heimische CDU-Bundestagsabgeordnete Hans-Jürgen Irmer, „kann ich die sehr naive Forderung des Magistrats der Stadt Wetzlar nicht nachvollziehen, wenn dort die ‚Mayors for Peace-Flagge‘ im Beisein von kirchlichen Würdenträgern und dem Arbeitskreis Frieden gehisst wird.“ (Zitat aus dem Wetzlar Kurier Nr.8 • 39. Jahrgang, Seite 2)

Die Aktion am 8. Juli vor dem Wetzlarer Rathaus im Gedenken an den Beschluss von 122 Mitgliedsstaaten der UNO über einen Atomwaffenverbots-Vertrag vor genau 3 Jahren nimmt die CDU Wetzlar zum Anlass, im Wetzlar Kurier (WK) einen polemischen Artikel zu veröffentlichen. Er trägt die Überschrift, „Der gigantischen russischen atomaren Aufrüstung setzen Bürgermeister ‚Friedensflagge‘ entgegen.“

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, der Sicherheits-Logik, wie sie der WK vertritt, eine Friedens-Logik entgegen zu setzen.

• Aus der Erfahrung lernen

1982 hat der Bürgermeister von Hiroshima die weltweite Initiative „Mayors for Peace“ gegründet. Inzwischen haben die Magistrate aus über 7900 Städten in 164 Ländern die Forderung nach Abschaffung der Atomwaffen aus Sorge um die Gesundheit und das Leben auf der Erde unterzeichnet. Sie fordern einen Wandel in der Sicherheitspolitik. Für Deutschland hieße das ein Verzicht auf die nukleare Teilhabe und die ersatzlose Vernichtung der in der Eifel gelagerten 20 Atombomben.

Der WK blendet die Gefahren von Produktion, Lagerung und Einsatz von nuklearen Massenvernichtungswaffen aus.
Er wertet die Aktion des Magistrats mit Vertretern aus Kirche und Gesellschaft als „naiv“ und fordert „Vernunft“. Diese sieht er in der Auseinandersetzung mit „der gigantischen russischen atomaren Aufrüstung“. Am Schluss des Artikels bedauert er: „Das Traurige ist, dass sich honorige Vertreter von bürgerlichen Gruppierungen zum Handlanger von Links machen …“. Der WK leugnet das Problem nicht nur, er versucht es in die Ecke eines ideologischen Machtkampfes zu rücken. Er lässt die Debatten von vor 40 Jahren wieder aufleben.

Die abertausenden Toten der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki bleiben eine dauerhafte Mahnung, ebenso die Strahlungsopfer von Uranabbau und Atomtestversuchen und Atomunfällen heute. Alle Atommächte rüsten zur Zeit auf. Dafür werden gigantische Geldsummen ausgegeben. Das sind alles Gründe, der derzeitigen Sicherheitspolitik die Zustimmung zu verweigern. Sie weisen weit über die Debatten von links und rechts hinaus. Alles Streben nach militärischer Überlegenheit ist eine Geisel für die gesamte Menschheitsfamilie und den Globus.

• Gemeinsame Sicherheit ist Aufgabe der Zivilgesellschaft und Ziel der Politik

Der Artikel im WK bringt eine fragwürdige Geschichtsdeutung. Z.B. wird die Politik von Herrn Gorbatschow als ein Einknicken vor der militärischen Übermacht der NATO interpretiert. Bekannt ist, dass Gorbatschow sich zeitlebens für globale Rechtssicherheit eingesetzt hat.
Der Beschluss der UNO vom 7.7.2017 entspricht diesem Ansatz. Er verfolgt das Ziel einer gemeinsamen Sicherheit. Angeregt durch Gruppen der Zivilgesellschaft bringt er den Willen einer überwältigenden Mehrheit von Staaten zum Ausdruck. Herr Irmer und der WK unterstellen, dass die „Friedensflagge“ eine einseitige Abrüstung fordert. Sie behaupten: „Solange aber kommunistische Diktaturen wie Russland und vor allem China ihre Hegemonial-Ansprüche nicht aufgeben, kann und darf sich der Westen nicht einseitig schwächen.“ In ihrer Logik muss der Westen nicht nur stark, sondern muss immer stärker sein. Wie es um die Sicherheit der anderen steht, berührt sie nicht. (Sie scheinen offensichtlich auch nicht gemerkt zu haben, dass Russland seit fast 30 Jahren nicht mehr kommunistisch regiert wird.)
Eine Politik auf der Linie der Friedens-Logik sucht den Ausgleich der Interessen aller. Nicht Überlegenheit und Abschreckung, sondern die Suche nach gemeinsamer Sicherheit schafft Frieden. Im Blick auf die Zukunft ist es nur folgerichtig, von der deutschen Regierung zu erwarten, dass sie den UNO-Beschluss mitträgt und sich für die Überwindung der Doktrin der nuklearen Abschreckung der NATO stark macht.

• Kirchliches Versagen erkennen und eine neue Gesinnung gewinnen

Die Kirchen in Deutschland haben einen langen Prozess durchgemacht, um ihr schuldhaftes Versagen im 2. wie auch schon im 1. Weltkrieg zu erkennen. Das Friedenswort 2018 der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland zeigt dies deutlich. Die katholischen Bischöfe in Deutschland veröffentlichten dieses Jahr zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren eine Broschüre unter dem Titel „Deutsche Bischöfe im Weltkrieg“. Darin schreiben sie: „Heute blicken wir mit Trauer und Scham auf die Opfer und diejenigen, deren existentiellen Fragen angesichts der Verbrechen und des Krieges ohne angemessene Antwort aus dem Glauben blieben.“ Auch betonen sie: „Mit dem Angriff auf die Sowjetunion verband sich die Vorstellung eines „Kreuzzuges“ gegen den „gottlosen Bolschewismus“, was das Kriegsgeschehen zusätzlich religiös auflud.“
In den 50er Jahren war es der Streit um die Frage eines Atompazifismus, der Christen spaltete. In den 80ern folgte die heftige Auseinandersetzung um die Nachrüstung der Mittelstreckenraketen. Schließlich machte die Öffnung des Eisernen Vorhangs eine freie Begegnung mit den Menschen der ehemaligen Sowjetunion und des Warschauer Paktes möglich. Sie ermöglichte ein gemeinsames Gespräch über leidvolle Erinnerungen. Das Nachdenken über diese Erfahrungen und die geteilte Erinnerung an die Opfer führten zu neuen theologischen Ansätzen. Sie münden in die Formulierung des Leitbilds des Gerechten Friedens.

• Konflikte nach den Kriterien einer Friedens-Logik angehen

Die Einstellung, eine gegnerische Seite notfalls tot zu rüsten, wie der WK das als Politik empfiehlt, macht Verhandlungen von vorn herein unglaubwürdig. Unter dem Leitgedanken des Gerechten Friedens geht es um eine Vielzahl von Aktionen sowohl von Regierungen wie von Organisationen der Zivilgesellschaft. Alle Aufmerksamkeit muss darauf gerichtet sein, gewaltsamen Konflikten vorzubeugen. Die hastige Entwicklung der Atomwaffen war der Abwehr der nationalsozialistischen Ideologie einer arischen Herrenrasse geschuldet. Sie fand ihre Fortsetzung im Kalten Krieg. Eine theologische Rechtfertigung von Atomwaffen war von Anfang an nicht haltbar. Sie wurde jedoch von den Großkirchen gebilligt, wenn auch nur als zeitlich begrenzte Option. Der Ansatz des gerechten Friedens verlässt diese Position.
Grundlegend für den gerechten Frieden ist die Suche nach Wegen, Konflikte gemeinsam zu bearbeiten.

• Internationales Recht beachten und weiterentwickeln

Nachhaltiges Engagement für den Frieden baut auf Vertrauen auf und braucht eine rechtliche Basis. Als Gläubige in der jüdisch-christlichen Tradition sind uns die 10 Gebote heilig. Nach der Katastrophe des 2. Weltkriegs setzte in der Völkergemeinschaft ein Nachdenken ein, das zur Deklaration der Menschenrechte führte. Wenn Friede das Ziel ist, dann müssen wir uns immer wieder über seine rechtliche Basis vergewissern. Kein Mensch darf sich über das Gesetz stellen.

• In die Kraft der geistlichen Wurzeln vertrauen – gerechten Frieden leben

Der WK schreibt: „Es grenzt schon an Selbstüberschätzung, wenn ein Pfarrer des Arbeitskreises Frieden … erklärt, dass der Bibeltext ‚Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen‘ grundlegend verantwortlich war, das Wunder des Wiederaufbaus von Ost und West eingeleitet zu haben.“
Wenn dies die Einschätzung der Christlichen Union widerspiegelt, dann ist ihr das Gespür für eine geistliche Sicht auf das Zeitgeschehen abhanden gekommen. Die Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“, mit denen die kirchliche Jugend in der DDR den Auftakt gesetzt hatte, die Gewalt der kommunistischen Diktatur zu unterlaufen, bleiben das Symbol für den unblutigen Verlauf der Wende und einen gesellschaftlichen Neubeginn. „Frommes Wunschdenken“ hat sich als mächtiger erwiesen, als alle atomar bestückten Mittelstreckenraketen in Ost und West. Warum sollte es heutigen Laien wie Pfarrern und Pfarrerinnen benommen sein, auf die verwandelnde Kraft des Glaubens zu vertrauen?

Pastor Ernst von der Recke, Arbeitskreis Frieden im Kirchenkreis an Lahn und Dill / August 2020

Die Mayors for Peace-Flagge wurde am 8. Juli vor dem Wetzlarer Rathaus gehisst.
Foto: bkl