Wenn der Schulmeister nicht singen kann:

Nur wenige wissen, dass die Orgel in der evangelischen Kirche in Atzbach zuvor fast 150 Jahre lang ihren Dienst in der Rhein-Main-Metropole Frankfurt verrichtet hat. 1783 hat die Kirchengemeinde Atzbach das barocke Musikinstrument gebraucht von der Dreikönigskirche Frankfurt-Sachsenhausen erworben. Dort war sie 1637 aufgestellt worden. Wer der Erbauer der Barockorgel war, ist nicht bekannt. Sie enthält aber einen Zettel mit der Aufschrift „Stan Keller, Wirt im Radt, diese Orgel gestiftet hat“. Die Dreifaltigkeitsgemeinde Frankfurt renovierte im 18. Jahrhundert ihre Kirche. Dabei musste auch die bisherige Orgel weichen.
In Atzbach wurde am 8. November 1767 die neue Kirche nach zwei Jahren Bauzeit eingeweiht. Sie ersetzte einen baufälligen Vorgängerbau. „Damals musste der Schulmeister sonntags in der Kirche vorsingen“, weiß Christoph Borries zu berichten, der 1998 eine Chronik des Instrumentes erstellt hat. Doch Schulmeister Adam konnte nicht singen. So gab es ständig Streit mit dem damaligen Pfarrer. Der hat seine Beschwerde nach Weilburg an das Schulamt weitergeleitet. „Adam wurde zum Üben verdonnert und es wurde ihm angedroht, die Schulmeisterstelle zu verlieren“, schildert der 87-jährige Borries die Situation. Tatsächlich kam einige Jahre später Schulmeister Rühl nach Atzbach, der dafür sorgte, dass die Frankfurter Orgel gekauft wurde. So erhielt Atzbach 16 Jahre nach dem Bau der Kirche eine, wenn auch gebrauchte, Orgel. Eher ungewöhnlich für Mittelhessen ist der Adler der freien Reichsstadt Frankfurt auf dem Mittelturm der Kirche, der noch an den einstigen Standort erinnert.
„Die Klangart weist auf mainfränkische Orgelbauer hin, was ebenfalls für Mittelhessen als ungewöhnlich gilt“, sagt Kantor Michael Klein, der hin und wieder das Instrument sonntags bedient. Das gelte vor allem für die weichen und dennoch farbigen Flötenregister. „Unsere Region gehört eigentlich zur mittelrheinischen Orgellandschaft, deren Instrumente im 17. und 18. Jahrhundert etwas kantiger klangen“, erläutert Klein. Das mainfränkische Instrument eigne sich hervorragend für die Orgelmusik des süddeutschen Barock, beispielsweise für die Werke des Nürnberger Meisters Johann Pachelbel (1653 bis 1706).

Borries weiß zu berichten, dass Atzbacher Bauern mit ihren Ackerwagen die in Kisten verpackten Orgelteile im 70 Kilometer entfernten Frankfurt-Sachsenhausen abholten. An Pfingsten 1783 kam das Instrument nach Atzbach, wo es durch den Gießener Orgelbauer Johann Peter Rühl eingebaut wurde. Rühl habe die Orgel etwas niedriger gemacht und umgebaut. Dabei setzte er einige Register neu ein. Fünf historische Register wurden über mehr als 380 Jahre erhalten. Nicht erhalten sind die beiden Flügel links und rechts, die jeweils zur Passionszeit und zu Bußzeiten zugeklappt wurden. „Früher musste das Instrument durch zwei Kalkanten, also Blasebalgtreter, bedient werden“, weiß der ehemalige Pädagoge Borries zu berichten. Dazu verpflichtete der Schulmeister zwei Schüler aus dem ältesten Jahrgang. Ein Schüler stand auf dem Blasebalg und ein weiterer zwischen dem Treter und dem Organisten, der die Orgel auf der anderen Seite spielte, so dass sich Kalkant und Spieler nicht sehen konnten. Der zweite Kalkant habe die Zeichen des Organisten an den Blasebalgtreter weitergeleitet, damit die Orgeltöne zum Ende des Gemeindegesangs endeten. Heute wird die Orgel durch eine elektrisches Gebläse betrieben.

Borries erzählt, dass die Orgelpfeifen kürzer als heute üblich sind. Dadurch ertöne nicht das C sondern das einen halben Ton höhere Cis. Darauf müssen sich die Organisten einstellen. Für Konzerte etwa mit Cello bedeute das, dass der Cellist seine Saiten umstimmen müsse.
Noch eine Besonderheit weist die Orgel auf. Die Pedalpfeifen sind hinter der eigentlichen Orgel außerhalb des Instruments installiert. Dies ist ein typisches Charakteristikum der mainfränkischen Orgelbauer.
1958 wurde die Orgel gründlich repariert und saniert. Dabei wurden auch die sichtbaren Prospektpfeifen wieder eingesetzt. Sie sind allerdings aus Zink, denn im Ersten Weltkrieg wurden die Zinnpfeiffen für die militärische Verwendung beschlagnahmt.
Ab 1995 wurde die Kirche mit ihrem 1899 angebauten Turm renoviert. „Für die Innenrenovierung wollte die Gemeinde die Orgel aus- und später wieder einbauen“, berichtet Borries, der sich auch im Presbyterium engagierte. Er habe sich dafür ausgesprochen, dass die Orgel dann auch restauriert werde. Das hat dann auch die Licher Orgelbaufirma Förster und Nicolaus. 1997 wurde die Orgel komplett ausgebaut und im Gemeindehaus gelagert. Nach und nach wanderten die Orgelteile zum Restaurieren nach Lich. 1998 konnte sie wieder eingebaut werden. Zuvor wurde die Decke des Gotteshauses repariert, denn die neigte sich nach unten und hing auf der Orgel.
Borries, der selbst nicht Orgel spielen kann, hat sich von Kind an für das Instrument interessiert. Schon als Schüler habe er Pfeifen gebaut, weil ihn Technik und Strömungsverhältnisse der Pfeifen interessierten.

Vor mehr als 25 Jahren nach dem Eintritt in den Ruhestand hat Borries gemeinsam mit dem ehemaligen Siegener Orgelbaumeister Hans Peter Mebold eine Hausorgel gebaut, die heute in seinem Wohnzimmer steht. Ein halbes Jahr räumte dafür einer der Mebold-Söhne sein Zimmer, damit Borries von Montag bis Freitag in Siegen bleiben und in der Werkstatt mitarbeiten konnte. Über Jahre hinweg gab es im Hause Borries jährlich ein Wohnzimmerkonzert. „Aus meiner Orgel kann man zwei Instrumente machen“, erläutert der Senior, denn das Instrument besitzt zwei Manuale, also Spieltische.

lr