Margot Käßmann: Ein Leben ohne Freundschaft wäre ein Verlust – 200 Zuhörer folgen der Lesung:

So voll ist die Kirche in Atzbach nur an Heiligabend. Mitten im November, als Margot Käßmann, die bekannteste evangelische Theologin Deutschlands, die Kirche in dem Lahnauer Ortsteil betrat, blickten ihr 200 Augenpaare entgegen. Die Atzbacher Landfrauen hatten die Pfarrerin und Buchautorin zu einem Vortrag eingeladen. Unter den Besuchern waren auch etwa zehn Männer. Vorstandsmitglied Hannelore Schneider freute sich, dass die Veranstaltung bereits Tage zuvor ausgebucht war. Käßmann begeistere nicht nur mit ihren Vorträgen das Publikum, sondern auch mit ihren Büchern, sagte Schneider. Die 63-jährige Käßmann, aufgewachsen im hessischen Stadtallendorf, war Bischöfin in Hannover und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. In Atzbach sprach sie über „Freundschaft, die uns im Leben trägt“, so der Buchtitel. Eine Stunde lang war es in der Kirche mucksmäuschenstill, als die Theologin aus ihrem Leben erzählte, aus der Bibel zitierte und Abschnitte aus ihrem neuesten Buch vorlas. Die Idee zu diesem Buch sei ihr nichts selbst gekommen, sagte Käßmann. Ihr Verleger Stefan Wiesner vom bene!-Verlag auf dem Altenberg bei Oberbiel habe sie dazu angestoßen. „Du hast doch mal gesagt, es müsste eine Theologie der Freundschaft geben“, hatte sie Wiesner erinnert.

„Meine Freundinnen haben mir viel bedeutet, in den schönsten Zeiten, aber auch in den schweren“, bekannte Käßmann. Käßmann berichtete aus ihrer Kindheit und von ihrer langjährigen Freundschaft mit Almut Wiedenhoeft.
„Freundschaft braucht Zeit“. Dieser Satz war ein erster Pflock, den sie während des Vortrages einschlug. Freundschaft bestehe nicht nur in guten Zeiten. „Man muss auch aushalten, dass es eine Auseinandersetzung oder ein Missverständnis gibt“, erläuterte die Theologin. Vor Freunden müsse man sich nicht schämen, auch wenn man einen Fehler mache.

„Einer der schwersten Momente unserer Freundschaft war, als Almut erzählte, dass ihr Mann Krebs hat“, führte Käßmann in die Tiefen einer solchen Beziehung. „Wir haben zusammen geweint. Zusammen weinen können, wenn das Leben sprachlos macht, gehört auch zur Freundschaft“.
Käßmann hat Gespräche mit dem erkrankten Ehemann geführt und ihn nach dessen Tod auch beerdigt. „Später hat sie mir in Tiefen beigestanden“, deutete Käßmann das Auf und Ab ihres eigenen Lebens an. Die Mutter von vier Töchtern wurde 2007 geschieden. Im Februar 2010 folgte ihr Rücktritt als Bischöfin und Ratsvorsitzende nach einer bekannt gewordenen Trunkenheitsfahrt.
Wie entstehen Freundschaften, fragte Käßmann, um gleich die Antworten zu geben. Forscher hätten herausgefunden, dass es 50 Stunden brauche, um vom Bekannten zum Freund zu werden, 200 Stunden, um beste Freunde zu sein.

Die Theologin hatte auch Beispiele aus der Bibel parat, wo es um Freundschaften geht. Sie erinnerte an Hiob, der alles verlor und erkrankte. Seine Freunde kamen zu ihm, um sieben Tage und sieben Nächte mit ihm zu schweigen. Auch die Freundschaft von David und Jonathan, dem Hirtenjungen und dem Königssohn holte Käßmann hervor. Am Ende war Jonathan die Freundschaft zu David wichtiger als alles andere. Am Lebensende sagte David „Wunderbarer war mir deine Liebe als die Liebe von Frauen“ (2. Buch Samuel, Kapitel 1, Vers 26).

Auch Frauenfreundschaften zitierte Käßmann, etwa von Ruth und ihrer Schwiegermutter Naemi im Alten Testament und von Elisabeth und Maria, der Mutter von Jesus, aus dem Neuen Testament.

„Man muss sich mögen, muss Sympathie hegen und Interesse am anderen zeigen“, fasste Käßmann eigene Erfahrungen zusammen. Dazu gehörten gemeinsame Rituale, etwa Sport oder Treffen an festen Terminen wie Pfingsten. „Freundschaften müssen auf Augenhöhe sein“.

Schließlich unternahm die Referentin noch einen Exkurs in die Filmgeschichte und Literatur. Sie erinnerte an das Kinderbuch „Zum Glück gibt’s Freunde“ mit den drei Protagonisten dem dicken Waldemar, einem Schwein, der Maus Johnny Mauser und dem Hahn Franz von Hahn. Ebenso streifte sie die Bücher von Janosch „Oh, wie schön ist Panama“ mit dem Tiger und dem Bären. Auch Ernie und Bert aus der Sesamstraße gehörten zu dieser Reihe von Freunden, ebenso wie Winnetou und Old Shatterhand.

„Einsamkeit muss nicht sein“, lautete ihr Appell an die Zuhörer. Freundschaft sei ein Wagnis, sich dem anderen zu öffnen“. „Ich kann nur jedem wünschen, das Wagnis einzugehen, denn ein Leben ohne Freundschaft wäre doch ein Verlust“.

red