Wenn aus Feinden Freunde werden – Rotem Levin und Osama Iliwat zum Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern:

Wie kann Frieden entstehen in einem Konflikt, der so komplex ist, dass er immer größere Eskalationen hervorruft – so wie er sich derzeit in Israel und Palästina darstellt? Um diese Frage ging es beim Gespräch mit dem Palästinenser Osama Iliwat und dem Israeli Rotem Levin im Evangelischen Gemeindehaus am Dom.

Eingeladen zum Vortrags- und Diskussionsabend hatten der Arbeitskreis Frieden im Evangelischen Kirchenkreis an Lahn und Dill mit Ernst von der Recke als Organisator und Moderator und die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar, die Pfarrer Wolfgang Grieb vertrat. Die Übersetzung vom Englischen ins Deutsche übernahm Marie-Noëlle von der Recke. „Rotem Levin und Osama Iliwat haben entdeckt: Es ist keine Lösung, gegeneinander zu kämpfen“, so Grieb. Beide gehören der Nichtregierungsorganisation „Combatants for Peace“ an, einer Friedensgruppe, für die die persönliche Begegnung im Mittelpunkt steht.

Es geht darum, zu begreifen, dass der andere auch Leid trägt – das Leid der Geschichte seines Volkes und das persönliche Leid. Das geht nur, wenn beide bereit sind, dem jeweils anderen zuzuhören. Wenn beide einander ihre Geschichten erzählen, unterschiedliche Meinungen stehen lassen können, aber einander als Menschen mit je ihren Erfahrungen, ihren Ängsten, ihren Hoffnungen und ihrer Lebensgeschichte akzeptieren. Beide versuchen, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen – Levin in die eines Palästinensers, Iliwat in die eines Israelis. Dafür haben sie auch die Sprache des anderen gelernt. Das hilft, nicht nur Inhalte, sondern auch Emotionen besser zu verstehen.

Dies wurde den mehr als 70 Zuhörern deutlich, als der Israeli und der Palästinenser ihre Lebensgeschichten erzählten, die Geschichten eines Soldaten und eines Widerstandskämpfers, die beide einen totalen Wandel ihrer inneren Einstellung erlebten.

Rotem Levin, in einem Dorf in der Nähe von Tel Aviv geboren, träumte davon, in der Einheit eines Cousins seiner Mutter als Soldat eingesetzt zu werden, was schließlich auch geschah. Der Cousin war bei einem Attentat getötet worden und wurde von der Familie als Held verehrt. Als Levin mit 20 Jahren erstmals mit seiner Einheit in die Westbank kam, musste er dort eine Handgranate in einen Hof werfen. Ihm wurde bewusst, dass dies nicht richtig sein konnte. Nach der Armeezeit begann er, Medizin zu studieren. Ein Studienfreund lud ihn zu einem Seminar mit Palästinensern und Israelis ein. „Dieses Seminar hat mein Leben verändert“, so Rotem Levin.

Er selbst und Osama Iliwat wuchsen in Unkenntnis der Geschichte des jeweils anderen Volkes auf. Haben die Palästinenser in der Regel noch nie etwas vom Holocaust gehört, so die Israelis noch nie etwas von der „Nakba“, im arabischen Sprachgebrauch der Katastrophe der Flucht und Vertreibung der Palästinenser nach der Gründung Israels 1948. Für die einen heißt das gesamte Land zwischen Jordan und Mittelmeer „Israel“, für die anderen „Palästina“.

Rotem Levin begann, sich für die Geschichte der Palästinenser und ihre Erfahrungen zu interessieren. Er versuchte, mit seiner Familie darüber zu sprechen, doch sie wollte nichts davon hören. So suchte er nach Menschen mit Verständnis und traf auf Palästinenser und Israelis, die bereit waren, beide Seiten des Konfliktes wahrzunehmen. „Ich wurde als Verräter bezeichnet“, erzählte Levin, „aber ich bin überzeugt von meinem Weg.“

Osama Iliwat, in Jerusalem und Jericho aufgewachsen, berichtete, seine Familie habe von ihrer Vertreibung 1948 nach Jordanien erzählt. „Ich bin mit großer Angst vor dem jüdischen Volk groß geworden“. Als Teenager habe er mit Freunden eine palästinensische Flagge gebastelt und sie in einen Baum gehängt. Dafür sei er verhaftet worden. „Im Gefängnis habe ich gelernt, die Israelis zu hassen“, schilderte Iliwat. In der Zeit der Zweiten Intifada schloss er sich einer Widerstandsbewegung an. Bis ein Freund ihn zu einem Treffen von Friedensaktivisten einlud. „Ich lernte Israelis kennen, die die Besatzung ablehnten“, erzählte er. „Und ich begriff: Wir sind bereit, einander zu töten, ohne einander zu kennen. Es gibt ein System, das uns nicht die Möglichkeit gibt, einander kennenzulernen. Das System möchte, dass wir Feinde sind. Aber wir haben entschieden, Freunde zu sein.“

Wer nicht persönlich von dem Konflikt betroffen ist, sollte sich hüten, in Diskussionen recht behalten zu wollen. Auch das wurde an diesem Abend deutlich. „Weniger Kopf, mehr Herz“, forderte Iliwat. Einseitigkeit mache den Konflikt nur schlimmer. „Es ist jetzt nicht die Zeit, darüber zu spekulieren, wer mehr leidet.“

 

Combatants for Peace

Zur Nichtregierungsorganisation (NGO) Combatants for Peace (CfP) gehören ehemalige israelische Soldaten und palästinensische Widerstandskämpfer. Die 2006 in Reaktion auf die Zweite Intifada (2000-2005) gegründete binationale Friedensbewegung baut auf die persönliche Begegnung. Dazu treffen sich ehemalige Kämpfer beider Seiten in privatem Umfeld, erzählen sich gegenseitig ihre Geschichten und lernen dabei einander kennen. Darüber hinaus gibt es gemeinsame Aktionen wie Theateraufführungen, Lesungen, Infoabende und Führungen durch die besetzten Gebiete. Combatants for Peace setzt sich in Form von Gewaltfreiheit für eine friedliche Lösung des Nahostkonfliktes ein.

 

bkl

Bild 1: Rotem Levin (2.v.l.) und Osama Iliwat (r.) setzen sich für ein gewaltfreies Miteinander zwischen Israelis und Palästinensern ein, hier mit Moderator des Abends Ernst von der Recke (2.v.r.) und Wolfgang Grieb (l.), der die Zuhörer begrüßte.

Bild 2: Mitten in der Diskussion (v.l.): Osama Iliwat, Marie-Noëlle von der Recke, Rotem Levin und Ernst von der Recke.