Arbeitskreis „Leben nach Tschernobyl“ hat sich zum letzten Mal getroffen:

  „Das hat mich bewegt“  „Das war komisch“ – „Das war lustig“   – viele lebendige Erinnerungen waren es, die beim letzten Treffen des Arbeitskreises „Leben nach Tschernobyl“ (LebT) im evangelischen Gemeindezentrum der Braunfelser Friedenskirche zur Sprache kamen. Elf der ehemals mehr als 20 Mitglieder waren dort zusammengekommen um gemeinsam mit Superintendent Roland Rust und kreiskirchlich Engagierten aus dem Arbeitskreis Frieden und dem Bereich Schulen sowie der Deutsch-Weißrussischen Gesellschaft Wetzlar Erlebtes auszutauschen und Perspektiven für eine mögliche Weiterarbeit zu entwickeln. Denn obwohl es noch viele private Kontakte in das betroffene Gebiet gibt, wird die Arbeit insgesamt für die Mitglieder nach fast drei Jahrzehnten zu mühevoll. Bereichert wurde der Abend von kulinarischen Köstlichkeiten aus Weißrussland, die Mitglieder des Arbeitskreises zubereitet hatten und servierten.

Wie die Vorsitzende Lore Gerster in ihrem Vortrag erläuterte, ist der Arbeitskreis aus einer Reise des evangelischen Pfarrkonventes Braunfels in die Staaten der ehemaligen Sowjetunion im Jahr 1990 hervorgegangen. 1992 kam es zur Gründung mit dem Ziel, das Leben nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl für die betroffenen Menschen im Kreis Woloszin in Weißrussland (Belarus) erträglicher zu machen.

Als Symbol der praktischen Versöhnung wurde eine Erholungsmaßnahme für Kinder aus Weißrussland beschlossen, wo es die meisten und zum Teil sehr hohe radioaktive Niederschläge nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 gegeben hatte. So kamen in den Jahren 1991 bis 2006 insgesamt 16 Gruppen mit 20 bis 35 Kindern aus zwei Dorfschulen im Kreis Woloszin und ihre Lehrer aus dem betroffenen Gebiet für je dreieinhalb Wochen in die Braunfelser Region.

Dort wurden sie zunächst im Familienerholungsheim der Evangelisch-Methodistischen Kirche „Haus Höhenblick“ untergebracht und dann in Privatfamilien. „Wir haben die Kinder in Gießen auf Radioaktivität untersuchen lassen und dabei festgestellt, dass sie am Ende der Besuchszeit die Hälfte davon ausgeschieden hatten“, erzählte Doris Renfordt vom Erfolg der Maßnahme. „Viele Freundschaften bestehen bis heute“, sagte Roswitha Pobel (Steindorf), die selbst auch Kinder aufgenommen hatte und sich von ihrer Freude an den Ausflügen und Begegnungen anstecken ließ. „Ich möchte diese Zeit nicht missen und zehre heute noch davon.“

Auch die Stadt Braunfels sowie verschiedene Vereine aus Braunfels, Tiefenbach, Ehringshausen und Steindorf engagierten sich mit der Organisation von Sport- und Spielnachmittagen. Zahlreiche private Spenderinnen und Spender halfen mit Obst und finanziellen Zuwendungen. Die Stadt Braunfels gewährte den Gästen freien Eintritt ins Schwimmbad.

Im Laufe der Jahre entstand die Idee, die Menschen zu befähigen, entsprechende Maßnahmen im eigenen Land zu entwickeln. So kam es zur Einrichtung des Kur- und Erholungszentrums „Nadeshda“ (übersetzt: „Hoffnung“), etwa 90 Kilometer nördlich von Woloszin.  Das deutsch-russische Gemeinschaftsprojekt führte dazu, dass sich Schülerinnen und Schüler und auch die behinderten Kinder mit ihren Müttern aus der Tagesstätte in Woloszin im eigenen Land erholen konnten. Der Arbeitskreis LebT hat diese Maßnahmen finanziert.

Spenden aus dem Evangelischen Kirchenkreis Braunfels ermöglichten zudem den Kauf eines Busses zum Transport behinderter Kinder in eine Tagesstätte.

Darüber hinaus gab es Verbindungen zum Kreiskrankenhaus in Woloszin. Im Rahmen der Partnerschaftsbesuche wurden Medikamente und Vitamine sowie medizinisches Material dorthin gebracht.

Zum Engagement des Arbeitskreises gehörten weiterhin Aktionen zum Reaktorunglück in Tschernobyl. So gab es zum 20. Jahrestag ein Benefizkonzert mit Lesungen in der katholischen St. Anna-Kirche in Braunfels. „Gemeinsam mit den Konzertgästen haben wir „Dona nobis pacem“ gesungen, berichtete Linda Gundal, die selbst mit dirigierte, über eine bewegende Erfahrung. Kundgebungen und Kerzenaktionen mit Teelichtern, beispielsweise auf dem Braunfelser Marktplatz und auf dem Domplatz in Wetzlar 25 Jahre nach der Katastrophe, trugen dazu bei, das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Gefahr, die von Aromreaktoren ausgeht, zu schärfen.

Superintendent Rust, der die Arbeit selbst begleitet hatte, auch mit Bootsfahrten auf der Lahn, gab der Hoffnung Ausdruck, der eine oder andere Strang der Arbeit könne weitergeführt werden. Dass es hier zwar keine eindeutige Lösung, aber reichlich Anknüpfungspunkte in beiden Kirchenkreisen und Ideen zum Weiterentwickeln gibt, wurde am Ende des Abends  deutlich.

So erzählte Ilse Michalak (Niederbiel) anstelle der  verhinderten Vorsitzenden Ursula Heinecke  von der Arbeit der Deutsch-Weißrussischen Gesellschaft Wetzlar, die über einen weißrussischen Germanistikprofessor und die Wetzlarer Kantorei bereits seit 26 Jahren einen Studentenaustausch mit der Universität Witebsk betreibt. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zu Versöhnung und Verständigung zwischen russischen und deutschen jungen Menschen. Auch zum Osteuropa-Ausschuss des Kirchenkreises Wetzlar, der mit einer Behindertenorganisation zusammenarbeitet, könnten Kontakte geknüpft werden, schlug Ernst von der Recke vor, der gleichzeitig den Arbeitskreis Frieden vertrat. Berufsschulpfarrerin Gabriele Hamacher und Schulreferent Michael Lübeck regten an, die Kompetenzen der Wetzlarer Schulen zur Problematik der Atomenergie zu nutzen und Menschen zu suchen, die das Thema im Unterricht einbinden können.

„Ihr im Arbeitskreis habt euch von der Frage antreiben lassen: ‚Wie gehen wir mit dieser Welt um?’“, sagte  Roland Rust in seiner Andacht über Psalm 24. „Ihr habt euch vom Elend der Menschen anrühren lassen und dürft nun die Arbeit nieder- und in Gottes Hand legen, in dem Bewusstsein, dass er segensreiche Wege mit uns gehen wird.“

Den Mitgliedern des Arbeitskreises dankte  der Superintendent im Namen des Kirchenkreises Braunfels mit je einem Körbchen, bestückt mit Eine-Welt-Artikeln: „Ihr habt viel Kraft investiert. Ich fand es wertvoll, zu wissen: Da sind Leute auf einer wichtigen Spur unterwegs!“

bkl

[vc_gallery interval=”5″ images=”3744,3746,3747,3748″ img_size=”full”]Bild 1: Ein Körbchen mit Leckereien aus dem Eine-Welt-Laden: Superintendent Roland Rust überreichte Lore Gerster ein Dankeschön für ihren fast drei Jahrzehnte währenden hervorragenden Einsatz für den „Arbeitskreis Leben nach Tschernobyl“.

Bild 2: Mitglieder des „Arbeitskreises Leben nach Tschernobyl“ hatten sich  mit kreiskirchlich Engagierten im Arbeitskreis Frieden, in Schulen, der Deutsch-Weißrussischen Gesellschaft sowie mit Superintendent Roland Rust zusammengefunden, um Erinnerungen auszutauschen und Perspektiven für die Weiterarbeit zu entwickeln.

Bild 3: Zahlreiche Bilder und Erinnerungsstücke der Begegnung mit den Menschen in Weißrussland hatte Lore Gerster für das letzte Arbeitskreis-Treffen zusammengestellt.

Bild 4: Mit einem anschaulichen Vortrag gab Lore Gerster einen geschichtlichen Rückblick auf die Arbeit von „Leben nach Tschernobyl“.