Delegierte vom Kirchenkreis an Lahn und Dill nehmen an Gedenkveranstaltung teil:

Der doppelte Gottesdienst –  Erinnerung an die ungewöhnliche kirchliche Feier in der Erfurter Kaufmannskirche zum „40. Jahrestag der Republik“ am Sonnabend, 7. Oktober 1989

Anlässlich des Jubiläums der friedlichen Revolution hat der Kirchenkreis Erfurt am 7. Oktober zu einer Gedenkveranstaltung eingeladen. Mehrere hundert Bürgerinnen und Bürger waren vor genau 30 Jahren zu einem bewegenden Gottesdienst in der Erfurter Kaufmannskirche und einem anschließenden öffentlichen Gespräch zusammengekommen und hatten freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, freie demokratische Wahlen und Reisefreiheit gefordert. Dieser Gottesdienst war der Ausgangspunkt für große öffentliche Veranstaltungen und Demonstrationen im Herbst 1989 in Erfurt.

An Andacht und Empfang zum Gedenken an diese bewegte Zeit nahmen jetzt mit Pfarrer Roland Rust, Alice Kahn und Horst Henrich auch Mitglieder des leitenden Gremiums des Evangelischen Kirchenkreises an Lahn und Dill teil. Seit fast 40 Jahren pflegen der Kreiskirchenrat Erfurt und der Kreissynodalvorstand des Kirchenkreises an Lahn und Dill eine Partnerschaft, die vor allem in gegenseitigen Besuchen, Gesprächen und Veranstaltungen zum Ausdruck kommt.

In einem sehr persönlich gehaltenen Grußwort erzählte Roland Rust von der Flucht seiner Familie aus der Heimatstadt Aschersleben (damals DDR), als er noch ein Kind war, von der Begegnung mit einem Stasi-Mann als Theologiestudent, von einem Partnerschaftsbesuch in der Kirchengemeinde Bitterfeld im Oktober 1989 und von den damit verbundenen Sorgen, Hoffnungen und Ängsten. 30 Jahre danach sei er zutiefst dankbar, dass Stasi-Bespitzelung, politische Bevormundung und schikanöse Grenzübertritte der Vergangenheit angehörten. „Aktive Verantwortung ist uns aufgegeben, die Pflege der Zivilcourage und immer neue partnerschaftliche Begegnungen zwischen unseren Kirchenkreisen als wertvolle Perspektive“, betonte Rust abschließend.

Senior (Superintendent) Dr. Matthias Rein machte in seiner Ansprache in der Erfurter Michaeliskirche deutlich, dass sich der „Erinnerungsraum Friedliche Revolution“ aus Erinnerungen und Bildern speise. Menschen forderten Antworten auf drängende Fragen wie Umweltverschmutzung, Pflegenotstand und Weiteres. „Menschen aus Westdeutschland und aus anderen Ländern kamen hierher“, sagte er, „nahmen dafür Ängste und schikanöse Kontrollen auf sich. Sie suchten das Gespräch und halfen durch ihre Präsenz. Die Netzwerkarbeit bereicherte hin und her und überwand damit die Mauer.“

Zwei Zeitzeugen, Johannes Staemmler, damals Studentenpfarrer, und Wolfgang Musigmann von der Jungen Arbeit Erfurt, erinnerten an die Geschehnisse von 1989. Die Schilderungen machten die angespannte Situation und den Mut – vielleicht auch den Mut der Verzweiflung – der Beteiligten und Gottesdienstbesucher deutlich.

Die Stasi hatte im Vorfeld der Veranstaltungen damals deutlich gemacht, sofort einzuschreiten, sollte es zu Demonstrationen und Protesten kommen. An zwei zentralen Orten in der Stadt waren Sicherheitskräfte konzentriert worden, die Demonstrationen verhindern sollten.

Wolfgang Musigmann verlas zu Beginn der Andacht seine Ansprache an die Gottesdienstbesucher aus dem damaligen Gottesdienst. Die Wortwahl macht die Gratwanderung deutlich: „Zunächst wird ein Gottesdienst stattfinden. Anschließend kann ein öffentliches Gespräch stattfinden.“ Die Staatsmacht sollte nicht provoziert werden.

Als Pfarrer Staemmler, wie er erzählte, etwa eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes an der Kirche eintraf, war der Platz um die Kaufmannskirche schwarz vor Menschen. Gefährlich wurde die Situation, als auf der Wendeschleife der Straßenbahn um die Kaufmannskirche ständig Straßenbahnen mitten durch die Menschenmassen fuhren. Wie durch ein Wunder passierte kein Unfall. Weil so viele Menschen wegen Überfüllung der Kirche keinen Einlass mehr fanden, gab es gleich anschließend einen zweiten Gottesdienst.

Bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 hatten Bürgerrechtler Wahlfälschungen festgestellt. Es hatte Einsprüche gegen das Ergebnis gegeben, die jedoch nicht zugelassen wurden. Die Wahlen markierten den Anfang vom Ende der DDR.

Bei dem öffentlichen Gespräch am 7. Oktober 1989 konnten die Teilnehmer vor das Mikrofon treten und ihre Sorgen zum Ausdruck bringen. Es bildete sich eine lange Schlange und die Redner trauten sich ihre Namen zu nennen. Das war neu. Sie forderten freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, freie demokratische Wahlen und Reisefreiheit. Es war ein Punkt erreicht, wie Wolfgang Musigmann Alice Kahn im Gespräch erklärte, an dem es den Menschen einfach gereicht hätte. Sie wollten die Zustände nicht mehr hinnehmen.

Beim jetzigen anschließenden Empfang wurde auch die Broschüre „Lasst uns Brücken bauen“ von Senior i. R. Andreas Eras und Dekan i. R. Wolfgang Drewello vorgestellt. Beide hatten Material über die Anfangsjahre der Partnerschaft zwischen dem Kirchenkreis Erfurt und dem Dekanat Mainz zusammengetragen. Andreas Eras berichtete, wie der Mainzer Diakon Gerhard Teuffel ohne Auftrag nach Erfurt kam, in eine Telefonzelle ging und einfach Kontakt mit dem damaligen Senior aufnahm. Nachdem im Jahr 1988 die Städtepartnerschaft zwischen beiden Städten besiegelt wurde, entstand danach auch auf kirchlicher Seite die Partnerschaft. Am 16. September 1995 wurde die Urkunde im Erfurter Augustinerkloster unterzeichnet.

Die Partnerschaften, zu DDR-Zeiten nach Wetzlar/Braunfels und nach Mainz (nach der Wende kam die Partnerschaft mit Bradford/Leeds in England dazu), wirkten wie Netzwerke. Reisen waren zwar damals nur in Richtung Osten möglich. Durch Präsenz zeigen, zuhören und wahrnehmen, was ist, konnten die Partner aus dem Westen jedoch zu Hause berichten und die Netzwerkarbeit zeigte in Ost und West Wirkung. So konnte die Mauer überwunden werden.

Weitere Informationen unter http://www.gesellschaft-zeitgeschichte.de/geschichte/demonstrationen-in-erfurt/demonstrationen-in-erfurt

(zur „Jungen Arbeit“: Die Basisgruppen waren überwiegend unter dem Dach von “Stadtmission und Gemeindedienst”, der Offenen Arbeit, der Studentengemeinde und der Jugendarbeit der evangelischen Kirche. Es gab einzelne Versuche, diese im staatlichen Bereich anzusiedeln (z.B. Kulturbund), die Gruppen wurden dort massiv behindert und z.T. arbeitsunfähig gemacht.)

und

http://www.gesellschaft-zeitgeschichte.de/stasi/zeittafel-der-friedlichen-revolution/

 

Kahn/bkl / Fotos: Franzisca Friedrich[vc_gallery interval=”5″ images=”8342,8343″ img_size=”full”]Bild 1: Pfarrer Roland Rust, leitender Geistlicher des Evangelischen Kirchenkreises an Lahn und Dill, Alice Kahn und Horst Henrich bei der Andacht zum Gedenken an 30 Jahre friedliche Revolution in der Erfurter Michaeliskirche (vorne rechts Senior i.R. Andreas Eras).

Bild 2: Ein sehr persönliches Grußwort hielt Pfarrer Roland Rust beim anschließenden Empfang.