Mathias Rau gibt Ende des Jahres nach 33 Jahren die Geschäftsführung und den Vorstandsitz der Diakonie Lahn Dill e. V. ab. Wir haben uns mit ihm zu einem Abschiedsinterview getroffen:
Lieber Mathias, wenn dieses Jahr abläuft, verlässt du nach 33 Jahren die Diakonie Lahn Dill. 23 Jahre davon warst du als Geschäftsführer und Vorstand deren Leitung. An welche Erfolge denkst du gerne zurück?
Als größten Erfolg erlebe ich die positiven Rückmeldungen unserer Klienten. Ich durfte immer wieder sehr berührende Aussagen hören und bewegende Zeilen lesen. Unser Ziel ist es, für Menschen da zu sein und Ihnen dabei zu helfen, die nächsten Schritte zu erkennen und zu gehen, sie dabei zu unterstützen, dass sie wieder in ihre Kraft kommen, sich neu ausrichten. Wir sind erfolgreich, wenn Menschen uns vertrauen. Dieses Ziel erreichen wir immer wieder.
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist unsere Diakonie Lahn Dill ein gesundes, solide aufgestelltes Unternehmen. Das ist in der Sozialwirtschaft nicht selbstverständlich. Dem gingen aber auch schmerzliche Einschnitte wie die Schließung von Arbeitsbereichen (z.B. der Modellwerkstatt im Jahr 2005) voraus. Wichtig ist: Unsere mehr als 120 Mitarbeitenden können sich auf uns verlassen. Ich teile diesen Erfolg gerne mit meinem Vorstandskollegen und dem Leitungsteam.
Als Erfolg werte ich die im Jahr 2017 abgeschlossene Organisationsentwicklung mit der es gelang, das damalige Stephanus Werk, den Betreuungsverein und das Diakonische Werk als Kirchenkreisverband organisatorisch zu verschmelzen. Daraus entstand der Verein Diakonie Lahn Dill e.V.. Das ermöglicht seitdem eine klare Wiedererkennbarkeit, Kommunikation und Steuerung. Es macht einen Unterschied, ob man drei Organisationen vorsteht oder nur einer.
Ein Erfolgserlebnis war für mich im Jahr 2006 auch der Umzug unserer Geschäftsstelle aus der Turmstraße in die Langgasse. Wir sind seitdem viel präsenter und näher bei den Menschen.
In den letzten Jahren konnten wir die Beratungsstelle für Familien-, Ehe-, Erziehungs- und Lebensfragen integrieren und somit das diakonische Beratungsangebot in der Region stabilisieren, ausweiten und in neuen Räumlichkeiten in der Turmstraße anbieten. Sicherlich auch ein Erfolg.
Welche besonderen Begegnungen bleiben dir in Erinnerung?
Durch die Aufgabe als Leitung wurde der Abstand zu Menschen, die wir begleiten, größer. Ich habe mich deswegen immer umso mehr gefreut, bei Veranstaltungen und Festen Klienten und Klientinnen zu begegnen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Etwas Besonders war der Besuch von Anselm Grün in der Stadthalle anlässlich des 20jährigen Bestehens des Stephanus Werkes im Jahr 2009, die Aktion „Die blaue Couch der Diakonie“ in der Himmelskirche während des Hessentags 2012 u.a. mit Margot Käßmann. Auch Präses Schneider und Präses Rekowski besuchten unsere Diakonie. Einmal war der damalige hessische Ministerpräsident Volker Bouffier im Haus Stephanus in Aßlar und wir kamen ins Gespräch.
Welche Projekte und Initiativen aus der Vergangenheit hatten für dich besonderen Charme?
Die Woche der Seelischen Gesundheit im Rahmen des 25jährigen Jubiläums des Stephanus Werkes im Jahr 2014 war etwas Besonderes. Es gab Mitmach-Aktionen auf dem Domplatz und Veranstaltungen über eine ganze Woche in Wetzlar, das war toll.
Es gab viele interessante, kreative und innovative Projekte, die leider meist nach einer befristeten Förderung wieder ausliefen. Nur einige davon, wie das Sprachlernprojekt HIPPY und das Schulprojekt „Verrückt? Na und!“ etablierten sich. 2008 wurde die Theatergruppe „Sandkörner“ mit dem Walter-Picard-Preis ausgezeichnet und das Cafe „KaffeeSatz“ erhielt 2021 den Integrationspreis der Stadt Wetzlar. Unser Atelier Kunst Inklusiv war ein besonderes Inklusionsangebot, das wir leider 2020 nach 6 Jahren wegen der Pandemie und aus finanziellen Gründen beenden mussten.
Vor welchen besonderen Herausforderungen steht die Freie Wohlfahrtspflege im Allgemeinen und die Diakonie im Speziellen?
Angesichts rechtsextremer Haltungen in unserer Gesellschaft und fortschreitender Individualisierung müssen wir uns als Wohlfahrtsverbände klar auf die Seite der benachteiligten und ausgegrenzten Menschen stellen und Position beziehen für Vielfalt (Diversity), Integration, Inklusion, Teilhabe und soziale Gerechtigkeit. Menschen dürfen in ihrer Armuts-, Krankheits- oder Behinderungssituation nicht alleine gelassen werden. Die Freie Wohlfahrtspflege hat die Aufgabe vulnerable gesellschaftliche Gruppen zu schützen und zu unterstützen. Wir können nicht mehr darauf hoffen, dass wir hierfür in der Politik immer Partner finden. Es ist aber wichtig kontinuierlich daran zu erinnern, dass ein gelingendes soziales Miteinander für den Zusammenhalt einer Gesellschaft und für die Demokratie essenziell sind.
Für die Diakonie gilt es, attraktiver Arbeitgeber zu werden bzw. zu bleiben, um zukünftig Fachkräfte zu gewinnen. Hierzu ist eine permanente Entwicklung der Organisation nötig. Neue flexible Arbeitszeitmodelle, Kultur der Mitbestimmung, Life-balance, agiles Arbeiten, Digitalisierung, Social-Media und der Einsatz von KI in der Sozialen Arbeit … diese Themen müssen wir in Zukunft bewegen. Und immer wieder sollten wir uns unserer geistlichen Wurzeln bewusstwerden und für die Beschäftigung damit angemessene neue Wege finden.
Diakonie gilt als Lebens- und Wesensäußerung der Evangelischen Kirche. Wo erlebst du, dass das zusammengehört?
In der Bibel gehört das klar zusammen. Zum Beispiel im Jakobusbrief: „Seid aber Täter des Wortes und nicht Hörer allein“, oder in der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Christliches Leben bedeutet nicht nur, sonntags auf der Kanzel zu predigen oder Predigten zu hören. Sondern es bedeutet auch, unter der Woche in tätiger Nächstenliebe an jedem Tag unterwegs zu sein. Es geht um „Das handelnde Wort und die redende Tat“. Ich finde den Satz: “Diakonie und Kirche sind Lebens- und Wesensäußerung des Evangeliums“ treffender als den Satz in der Fragestellung.
Ist die Diakonie Lahn Dill für die aktuellen Herausforderungen aus deiner Sicht gut aufgestellt?
Mit Britta Westen tritt eine erfahrene Leitungskraft meine Nachfolge an. Wir dürfen davon ausgehen, dass Frau Westen mit Engagement und Fachlichkeit gut vernetzt die Diakonie Lahn Dill zusammen mit Andreas Henrich durch die nächsten Jahre hindurchführt. Darüber freue ich mich sehr. Wir haben insgesamt ausgesprochen engagierte, fachlich versierte Mitarbeitende. Gott sei Dank! Damit haben wir großes Potential, um Herausforderungen in unterschiedlichen Feldern zu meistern. Aus unternehmerischer Perspektive sind wir gut aufgestellt.
Wenn ich den Blick aber etwas weite und mich frage, ob der regionale „Evangelische Sektor“, zu dem die Diakonie als bedeutender Akteur gehört, gut aufgestellt ist, nehme ich noch Luft nach oben wahr. Nach meiner Auffassung brauchen wir eine bessere Vernetzung und Kooperation aller evangelischen Akteure in der Region. Kirchenkreis, Kirchengemeinden, kirchlich, diakonische Träger – ein evangelisches WIR als tragfähiges Netzwerk der Zukunft. Davon sind wir leider noch ein ganzes Stück entfernt.
Wirst du dich ganz aus der Diakonie zurückziehen, wenn dein Amt als Vorstand endet?
Aus dem operativen Bereich der Diakonie Lahn Dill scheide ich definitiv aus. Ich bin nach wie vor gewähltes Mitglied im Diakonieausschuss des Kirchenkreises und werde mich dort ehrenamtlich einbringen genauso wie in der Stephanus-Stiftung und voraussichtlich auch im Hospiz Mittelhessen. Darauf freue ich mich.
Zum Abschluss noch zwei private Fragen. Erstens: Was wirst du im Ruhestand nicht vermissen?
Ich bin kein Fan von Videokonferenzen und die tägliche Flut von E-Mails mit mehr oder weniger wichtigen Anhängen werde ich auch nicht vermissen. Um es allgemein in einem Bild zu sagen: Einen Karren länger als 20 Jahre über unebenes Gelände zu ziehen, ist sehr fordernd. Ich freue mich, wenn der Karren nun von anderen gezogen wird.
Zweitens: Worauf freust du dich im Ruhestand besonders?
Ich mache Musik in unterschiedlichen Formationen. Da habe ich jetzt mehr Zeit zum Üben, Arrangieren und Songs schreiben. Zudem reise ich gerne mit meiner Frau in unserem kleinen Wohnmobil. Hin und wieder werde ich sicherlich als systemischer Coach beratend tätig sein und etwas von meinem Wissen und meinen Erfahrungen weitergeben können.
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