Wetzlarer Gespräch zur Zukunft Europas:

„Europa braucht eine christliche Renaissance, die die christliche Tradition wiederentdeckt, um sie für heute weiterzudenken.“

So die zentrale These von Wolfgang Sander. Der emeritierte Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen hat im Haus der Kirche und Diakonie in Wetzlar zum Thema „Christlicher Glaube und europäische Zukunft – eine Ermutigung“ referiert. Dies im Vorfeld der Europawahl und mit dem Ziel, der Ansicht, das Christentum werde für die europäische Zukunft bedeutungslos, entschieden zu widersprechen. Dabei untermauerte Sander seine Thesen mit Zitaten zahlreicher säkularer Wissenschaftler aus Geschichte und Gegenwart.

Wolfgang Sander, der in Krofdorf-Gleiberg wohnt, hat Sozialwissenschaften, Evangelische Theologie und Erziehungswissenschaften studiert. Er hatte leitende Funktionen in Organisationen für politische Bildung für Jugendliche und Erwachsene in Deutschland und Österreich inne. Er ist Autor des 2022 erschienen Werkes „Europäische Identität – Die Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums“.

Die Probleme, vor denen Europa steht, wie die West-Ost-Differenz, die Flüchtlings- oder die Klimakrise benannte der Referent deutlich. Sander führte aus, dass eine europäische Integration notwendig, aber bedroht sei; dass für die erfolgreiche Weiterentwicklung der europäischen Integrationspolitik eine gemeinsame europäische Identität Bedingung sei und dass diese gemeinsame Identität der Fundierung in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte bedürfe. Aufgabe sei es hier, die christliche Tradition wiederzuentdecken und sie als Inspiration für die Gesellschaft fruchtbar zu machen.

Zum einen läge diese Inspiration in der Erneuerung des Gottesbezugs, sagte Sander. Anstelle des Gottesglaubens seien menschliche Selbsttäuschungen wie beispielsweise die Suche nach Einzigartigkeit oder der Kult der Selbstverwirklichung getreten. Hier gelte es, sich auf die Gottesebenbildlichkkeit zu besinnen, die alle Menschen trotz ihrer Vielfalt miteinander verbinde. Hierzu gehöre zudem ein tieferes Weltverstehen als ein oberflächlicher Naturalismus. Albert Einstein habe von dem „großen Schleier“ gesprochen, hinter dem sich das wahre Gesicht der Natur verberge: „Aus christlicher Sicht ist Gott das Geheimnis hinter dem Schleier.“

Eine weitere Inspirationsquelle des Christentums sieht Wolfgang Sander in der Erneuerung des Weltbezugs. Hier geht es ihm darum, zu entdecken, dass die Welt und das eigene Leben unverfügbar sind. Dies angesichts einer Denkweise, die davon ausgeht, der Mensch könne die Welt vollständig unter seine Kontrolle bringen. „Gleichzeitig befreit der christliche Glaube von der Überforderung, die ganze Welt retten zu können“, so der Referent.

Zudem plädierte Sander für eine Erneuerung des Freiheitsverständnisses, das Glück nicht als Grundrecht versteht, sondern die eigene Freiheit mit der Nächstenliebe verknüpft. Bildung versteht Sander in ihrer Erneuerung als Horizonterweiterung, im selbständigen Denken, begründeten Urteilen und in der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.

Die anschließende lebendige Diskussion drehte sich unter anderem um die Frage nach Werten im Gegenüber zu Glaubensüberzeugungen, um das Grundrecht auf Religionsfreiheit, um das globale Wachstum des Christentums und darum, dass die Kirche eine zeitgemäße Sprache finden muss und kann, um sich den Menschen in Europa verständlich zu machen.

Zu Vortrag und Gespräch eingeladen hatte der Sozialethische Ausschuss im Evangelischen Kirchenkreis an Lahn und Dill. Moderatorin Karin Rinn, gleichzeitig stellvertretende Ausschussvorsitzende, hatte die Anwesenden mit einem Wort des Apostels Paulus aus dem 1. Thessalonicherbrief, Kapitel 5, Vers 21 begrüßt: „Prüft aber alles und das Gute behaltet.“

 

„Europäische Identität – Die Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums“ von Wolfgang Sander ist 2022 in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig erschienen.
Das 272 Seiten umfassende Werk ist zum Preis von 25 Euro zu erwerben.
ISBN 978-3-374-07019-0
Zur Leseprobe geht es hier: https://www.amazon.de/Europ%C3%A4ische-Identit%C3%A4t-Erneuerung-Europas-Christentums-ebook/dp/B09NQHDM4F?asin=B09NQHDM4F&revisionId=e60ce60e&format=1&depth=1

bkl

Bild 1: Professor Wolfgang Sander referierte zum Thema „Christlicher Glaube und europäische Zukunft – eine Ermutigung“.

Bild 2: Die Moderation des Vortragsabends hatte Karin Rinn, stellvertretende Vorsitzende des Sozialethischen Ausschusses, übernommen.