In der Telefonseelsorge melden sich auch Menschen, die sich durch Ritzen oder Schneiden in ihre Arme selbst verletzt haben. Das berichtete die katholische Leiterin der ökumenischen Telefonseelsorge Gießen-Wetzlar, Johanna Klier. Die ehrenamtlichen Telefonseelsorgerinnen und -seelsorger wollten wissen, wie sie auf Anrufe reagieren können, in den es um selbstverletzendes Verhalten geht. Deshalb hatte Klier den Ärztlichen Direktor des Vitosklinikums Gießen und Marburg, Prof. Michael Franz, zu einem Vortrag und Austausch in die Jugendkirche Gießen eingeladen. Prof. Franz ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für spezielle Psychotraumtherapie. Der Experte erläuterte, dass er nicht über die Menschen spreche, die sich mit Tötungsabsicht verletzen, also Suizid machen wollen. Vielmehr gehe es um die Personen, die ein nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten zeigten.

Er lenkte die aufmerksamen 35 Zuhörer auf die Menschen, die sich Hautschnitte zufügen, um einen starken inneren Druck abzubauen. Teilweise sei die Hautverletzung heute sozial anerkannt, etwa beim Piercing, bei dem Schmuck in Hautschichten eingeführt wird.

Vor allem unter jungen Menschen ist das Ritzen, Kratzen, Verbrennen oder das Hantieren mit Kältesprays mancherorts zeitweise verbreitet. Bei Borderlinestörung wiederum trete die nicht-suizidale Selbstverletzung am häufigsten auf. Sie betreffe Männer wie Frauen etwa in gleicher Stärke. Allerdings suchten Frauen eher Hilfe.

Durch Selbstverletzen Emotionen regulieren

Das selbstverletzende Verhalten beginnt im Alter von etwa 14 Jahren. Wenn die jungen Leute älter werden, nimmt es wieder ab. Die meisten Jugendlichen verletzen sich, weil sie ihre sehr starke Emotionen regulieren möchten. Sie versuchen, ihre Gefühle und ihren Stress unter Kontrolle zu bringen.

„Über 80 Prozent der Menschen, sie sich selbst verletzen, leiden an der Borderline-Störung“, erläuterte Prof. Franz. Bei den Formen der Selbstverletzung stehe das Ritzen oder Schneiden mit etwa 62 Prozent im Vordergrund. Noch etwa 42 Prozent der Patienten wende das Kratzen oder Kneifen an. Auf den weiteren Rängen stehen laut Prof. Franz Beißen, Stechen, sich schlagen und das Verbrennen mit noch 22 Prozent.

Das selbstverletzende Verhalten trete bei Krankheiten im Rahmen der Borderline-Störungen auf. Als eine solche Störung bezeichnet die Medizin Probleme mit der Selbstwahrnehmung, Angst des Verlassenwerdens oder Schwierigkeiten in mitmenschlichen Beziehungen. Aber auch bei Menschen, die ihre Impulse nicht kontrollieren können, ebenso wie bei posttraumatischen Belastungsstören ebenso wie bei Depressionen.

Leben mit hoher Anspannung

Manchmal gehe das Verhalten mit Flüssigkeitsmangel einher oder es fehle an Essen und Schlaf „Durch Selbstvorsorge lässt die Selbstverletzung nach“, wusste der Referent zu berichten. Auslöser für die Borderline-Störung könnten innere Konflikte sein sowie die Selbstentwertung. „Es geht immer irgend eine Schwierigkeit negative Gedanken und Gefühle zu bewältigen voraus“, fasste Prof. Franz die Krankheit zusammen. Angst, Wut, Selbstkritik und Selbsthass führten ebenso wie Depressionen zur Verzweiflung. „Der Mensch lebt in hoher Anspannung, leidet an intensiver Scham und immer wieder kehrenden Gedanken“.

„Die Selbstverletzung ist ein Selbstschutz des Gehirns“, warb der Referent um Verständnis für diesen Personenkreis. Es diene dem Überleben, da sie die Emotionalität reguliere. Die mangelnde Regulationsmöglichkeit sei nicht angeboren, aber die Verletzlichkeit, die im Leben im Rahmen einer nicht-optimal gelaufenen Interaktion mit der Umwelt zu erwerben.

Borderline-Störung behandelbar

Selbstverletzungen hätten nur eine kurzfristige Entlastungsfunktion. Langfristig aber würden sie Schäden hinterlassen: Narben, Stigmatisierung und Scham. „Vor 20/30 Jahren galten die Borderliner als unheilbar“, erläuterte er. Viele Missverständnisse seien geklärt, alte Glaubenssätze widerlegt und neue therapeutische Möglichkeiten gefunden worden. Prof. Franz wies darauf hin, dass die Vitosklinik solche Patienten stationär aufnimmt, aber auch eine Tagesklinik in Gießen unterhält.

Den Telefonseelsorgern gab er den Rat, nicht auf die Selbstverletzung im Gespräch einzugehen sondern auf die Gründe, die dazu geführt haben: „Aufmerksamkeit auf die innere Not, nicht auf die Verletzung“.

Johanna Klier dankte dem Referenten für die Ausführungen. Sie habe gelernt, nicht die Selbstverletzung sondern die dahinter stehende innere Not beim Telefongespräch zum Thema zu machen. Sie berichtete von einem Gespräch, bei dem der Betroffene dann über seine Einsamkeit redete.

Die Telefonseelsorge Gießen-Wetzlar hat 80 Ehrenamtliche, die rund um die Uhr unter den Nummern 0800-1110111 oder 0800-1110112 erreichbar sind und ein offenes Ohr für die Menschen haben. Im vergangenen Jahr nutzten 13.540 Anrufer diesen kostenlosen Service der Kirchen. Jeder Anrufer bleibt anonym.

Anfang Februar hat ein Schulungskurs für neue Telefonseelsorger begonnen. Es gibt noch zwei freie Plätze. Interessierte finden Informationen auf der Homepage https://telefonseelsorge-giessen-wetzlar.de/ oder können eine E-Mail schreiben an verwaltung@tsgi.de

 

TEXT: RED.

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BU: Der Referent Prof. Michael Franz mit der Leiterin der ökumenischen Telefonseelsorge Gießen-Wetzlar, Johanna Klier.