Der Arbeitskreis Frieden im Evangelischen Kirchenkreis an Lahn und Dill und der Wetzlarer Friedenstreff luden am Mittwoch, 12. Februar in das Gemeindehaus an der Hospitalkirche zu Vortrag und Diskussion ein. „Wehrhafte Demokratie – damals und heute“ war das Thema zu dem die Refernt:innen Dr. Barbara Müller, Friedens- und Konfliktforscherin sowie Historikerin, und Dr. Matthias Engelke, Gemeindepfarrer, Militärseelsorger und sechs Jahre Vorsitzender des Internationalen Versöhnungsbundes in Deutschland,  jeweils berichteten. Dabei warf Müller den Blick auf ein Ereignis der deutschen Geschichte: die Besetzung des Ruhrgebiets durch Belgien und Frankreich. Engelke setzte das Thema dann in einen gegenwärtigen Kontext unter der Überschrift: „Wehrhafte Demokratie – Herausforderungen für christliche Gemeinden“.

Von Weimar lernen

„Wir können aus Weimar mehr lernen, als den Untergang“, so Barbara Müller zu Beginn. Was genau sie damit meinte, wurde nach wenigen Minuten ihres gut 60-minütigen Vortrags klar: „passiver Widerstand“. Dadurch schaffte die Bevölkerung des Ruhrgebiets, bspw. mit Arbeitsniederlegungen und Sabotagen, sich gegen die Besatzung zwischen den Jahren 1923 bis 1925 zu wehren. Im Jahr 1923 besetzten nämlich belgisch-französische Truppen das Ruhrgebiet, weil Deutschland mit den Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg im Rückstand war. Diese Zahlungen waren im Versailler Vertrag von 1919 festgelegt worden. Ziel der Besatzer war es, die Zahlungen durch die direkte Kontrolle über die dortige Industrie und Wirtschaft zu erzwingen. Dies führte zu massivem Widerstand der deutschen Bevölkerung, insbesondere in Form des „passiven Widerstands“.

Gewaltloser Widerstand hat militärische Besatzung rückgängig gemacht

Die Besetzung endete 1925 mit dem Dawes-Plan, der eine neue Regelung der deutschen Reparationszahlungen vorsah. Am 17. September 1925 feierte das Ruhrgebiet das Ende der Besatzung. „Der passive Widerstand wurde von der Reichsregierung unterstützt. Die fehlenden Löhne der Streikenden wurden z. B. ausgeglichen. Gewaltloser Widerstand und eine hartnäckige, kluge Diplomatie haben eine militärische Besetzung rückgängig gemacht“, so Barbara Müller weiter. Wer mehr über dieses Ereignis erfahren möchte, Müllers Forschungen über die Besetzung und Befreiung des Ruhrgebiets 1923-1925 erscheinen demnächst als Buch.

Dr. Matthias Engelke knüpfte mit seinem Vortrag an und thematisierte darin die besondere Verantwortung christlicher Gemeinden im gesellschaftlichen und politischen Kontext. Er legte dar, dass christliche Gemeinschaften eine zentrale Rolle in der Verteidigung demokratischer Werte spielen können – insbesondere durch ihr Engagement für Frieden, Gleichheit und Wahrheit.

Friede als Grundprinzip christlichen Handelns

Dr. Engelke betonte, dass christliche Gemeinden „ein für die Welt unverzichtbares Gut“ bewahren: den Frieden. Dabei hob er hervor, dass Frieden nicht nur ein Ziel oder ein Instrument sei, sondern dass er „anfänglich“ sei – er müsse von Menschen aktiv gelebt werden, um real zu werden. In diesem Sinne verwies Engelke auf die Lehre Jesu, der die „ausschlusslose Liebe“ in den Mittelpunkt gestellt habe. Diese Liebe erlaube es, „zu jedem Zeitpunkt mit jedem Menschen unabhängig von seiner Vorgeschichte neu anzufangen“. Frieden beginne somit immer in der persönlichen Begegnung.

Gleichheit als Fundament der Demokratie

Ein zentraler Punkt des Vortrags war die Gleichheit aller Menschen als Grundlage demokratischer Strukturen. Engelke verwies dabei auf die jüdisch-christliche Tradition und insbesondere auf die erste Schöpfungsgeschichte (Gen 1), die die Gleichheit aller Menschen vor Gott festhalte. „Es gibt nicht verschiedene Herkünfte, wie es die Antike selbstverständlich angenommen hatte.“ Diese Vorstellung stehe im Widerspruch zu nationalstaatlichen Ideologien, die auf Differenz statt auf Gleichheit aufbauten. In diesem Zusammenhang zitierte er den tschechischen Komponisten Ondrej Adámek: „Nations are not built on egalitarian ideas.“ Daraus folgerte er: „Der Kampf für die Gleichheit aller Menschen kann darum nicht national geführt werden. Es bedarf dafür einer sozialen Basis, die a-national ist.“ Glaubensgemeinschaften hätten das Potenzial, eine solche übernationale Basis zu bilden – sofern sie sich nicht in religiösem Egoismus verschließen.

Historische Verstrickungen der Kirchen in Herrschaftssysteme

Engelke setzte sich kritisch mit der Rolle der Kirchen in der Geschichte auseinander. Er stellte fest: „Es gehört zu den Katastrophen der Menschheitsgeschichte, dass die Kirchen nicht zu den Verfechtern der Gleichheit aller Menschen gehörten und gehören.“ Dies sei erklärungsbedürftig und habe viel mit der historischen Verbindung von Kirche und Staat zu tun. Engelke argumentierte, dass der Konstantinismus, also die Vergöttlichung von Herrschaft durch das Christentum seit Kaiser Konstantin, eine entscheidende Rolle gespielt habe. „Mit der Bindung der Kirche an den Staat wurde Herrschaft vergöttlicht, Hierarchien religiös aufgeladen, die Ungleichheit der Menschen propagiert.“ Bis heute profitierten die Kirchen von dieser historischen Entwicklung, etwa durch Privilegien wie die Kirchensteuer.

Die Notwendigkeit waffenloser Gemeinden

Ein weiteres zentrales Thema des Vortrags war die Friedensethik. Engelke betonte, dass nur eine waffenlose Gemeinde Christus authentisch vergegenwärtigen könne. Er stellte fest: „Nur wer eine Waffe besitzt, muss sich Gedanken über ihren Gebrauch machen.“ Wer jedoch waffenlos sei, könne sich mit grundlegenderen Fragen der Gewaltfreiheit, des Widerstands und der Friedenssicherung beschäftigen.

Verbindliche Gemeinschaften als gesellschaftliche Kraft

Matthias Engelke betonte die große gesellschaftliche Verantwortung christlicher Gemeinden. Er stellte fest: „Christliche Gemeinden, die diese Möglichkeiten ihres Wirkens nicht wahrnehmen, tragen zur Verwahrlosung einer Gesellschaft bei, da es im Sozialen kein Vakuum gibt.“ Wo sich christliche Gruppen nicht für Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Menschenwürde engagierten, entstehe ein Raum, der von Gewalt und Lüge gefüllt werde. Er warnte davor, dass eine passive Haltung zur Erosion demokratischer Werte beitrage.

Lügen aufdecken als Beitrag zur Friedenssicherung

Ein besonders eindringlicher Punkt des Vortrags war die Verbindung zwischen Lüge und Krieg. Engelke formulierte es prägnant: „Da alle Kriege mit Lügen beginnen, ist es bereits kriegseindämmend, wenn Lügen aufgedeckt und bekämpft werden.“ Glaubensgemeinschaften hätten hier eine besondere Aufgabe, da sie in der Lage seien, gemeinschaftlich Wahrheit zu verteidigen und so aktiv zur Friedenssicherung beizutragen.

Beide Vorträge an diesem Abend waren leidenschaftliche Appelle gesellschaftliche Verantwortung ernst zu nehmen. Sie forderten auf, Frieden aktiv zu leben, sich für Gleichheit einzusetzen und durch Gemeinschaft das demokratische Gefüge zu stärken. Der vollbesetzte Gemeindesaal an der Hospitalkirche zeigte, dass gerade in diesen politisch sehr unruhigen Zeiten, in denen die Demokratie etwas im Wanken scheint, Themen wie „wehrhafte Demokratie“ den Nerv vieler Menschen treffen.

Text: JCK

Fotos: Jan-Christopher Krämer

1.  BU: v. l. n. r.: Dr. Barbara Müller, Ernst von der Recke (Arbeitskreis Frieden im Kirchenkreis an Lahn und Dill) und Dr. Matthias Engelke.

2. BU: Vollbesetzter Gemeindesaal an der Hospitalkirche bestätigt Aktualität des Themas.