Vertreter von Stadt, Kirche und Gesellschaft enthüllen Gedenktafeln in Niedergirmes:

„Gerade bei den schmerzlichen Erinnerungen ist es wichtig, dass sie bewusst gemacht und bearbeitet werden, damit sie als Erfahrungen ihren Platz im Gedächtnis und damit auch für das künftige Leben finden“, so Superintendent Dr. Hartmut Sitzler. In der katholischen Kirche St. Walburgis in Niedergirmes hatte, initiiert vom Verein „Wetzlar erinnert“ eine bewegende Gedenkstunde stattgefunden. Wo man die Vergangenheit verdränge, könnten sich keine geraden, aufrechten Menschen entwickeln, erklärte Sitzler. Wer von Goethe und Bach begeistert sei, müsse wissen, dass auch das zur deutschen Geschichte gehöre. „Nur wer sich ehrlich erinnert, kann eine reife Persönlichkeit werden.“

Die Tafeln 9 und 10 von insgesamt 24 geplanten Gedenktafeln zu Ereignissen der Zeit des Nationalsozialismus in Wetzlar sind am Samstag vor dem Friedhof Niedergirmes und an der St. Walburgis-Kirche offiziell enthüllt worden. Eine der Tafeln erinnert an die Menschen, die zur Zwangsarbeit nach Wetzlar verschleppt wurden, die andere an die Menschen im jüdischen Getto in der Jahnstraße. Neben Verantwortlichen der Stadt Wetzlar (Stadtrat Jörg Kratkey), des Vereins „Wetzlar erinnert“ (Irmtrude Richter) des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge Hessen (Landesgeschäftsführerin Viola Krause) nahmen auch Vertreter der regionalen evangelischen und katholischen Kirche, die sich als Tafelstifter beteiligt haben, die Enthüllung vor.

„Als Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit liegen uns besonders die Erinnerungen an die Leiden der Wetzlarer Juden am Herzen“, konkretisierte Pfarrer Wolfgang Grieb. Innerhalb weniger Jahre seien sie vom geschätzten Nachbarn zum vernichtungswürdigen Feind erklärt worden. „Die Gedenktafel an der Außenwand der Kirche verpflichtet heute, rechtzeitig die Stimme zu erheben und aufzustehen, wenn Antisemitismus und Fremdenhass unser Zusammenleben bedrohen.“ Zur Erinnerung gehöre es auch, den Reichtum jüdischer Kultur zu entdecken und damit ein Zeichen des Lebens zu setzen, so Grieb, der auf ein Klezmerkonzert verwies, das kürzlich in der Kirche St.Walburgis stattfand.

Die Baracke in der Jahnstraße Niedergirmes war vor 80 Jahren Lager für die letzten 28 Juden in Wetzlar, von dem aus sie in die Vernichtungslager im Osten verschleppt wurden. Nur wenige Menschen überlebten die Konzentrationslager. Aus Wetzlar waren es zwei Frauen, die zurückkehrten.

Die aktuelle Situation und den Umgang damit betrachtete Pfarrer Peter Hofacker kritisch: „Wie geht es uns als Christinnen und Christen heute angesichts der Kriege, des Elends in den Flüchtlingslagern dieser Welt, der Vertriebenen vieler Länder? Berühren uns diese Bilder noch?“ Die Antwort des Theologen: „Als Christinnen und Christen wollen wir einer zunehmenden Stimmung in der Bevölkerung widerstehen, in der Menschen ihre Menschenwürde abgesprochen wird.“ Hofacker brachte als Mahnung auch die Vergangenheit zur Sprache und zitierte aus dem Tagebuch der niederländischen Jüdin Etty Hillesum. Sie berichtet dort von ihren leidvollen Erfahrungen als Barackeninsassin vor dem Abtransport nach Auschwitz.

Vor 80 Jahren wurden viele tausend Menschen aus den besetzten Gebieten Europas zur Zwangsarbeit nach Wetzlar verschleppt. Daran erinnert die Gedenktafel zum Gräberfeld auf dem Friedhof Niedergirmes. Mindestens 265 sogenannte „zivile Fremdarbeiter“ wurden hier zwischen 1942 und 1946 ohne Sarg vergraben, unter ihnen auch Kinder.

Schülerinnen einer 9. Klasse der August-Bebel-Schule ließen die Anwesenden an ihren Recherchen zum Alltag der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter teilhaben. Einen Einblick in die Schicksale der jüdischen Menschen, die im Getto in der Jahnstraße leben mussten, gab Ursula Fokken während der Gedenkstunde.

Begrüßt hatte die Anwesenden auf dem Friedhof Initiator und Koordinator der Veranstaltung Ernst Richter vom Verein „Wetzlar erinnert“. „Die Menschenwürde ist unantastbar“, sagte er im Rahmen seiner Darstellung der Entwicklung der Gedenktafeln und ihrer geschichtlichen Hintergründe. Auf ihrem Weg am Gräberfeld der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vorbei zur Kirche St. Walburgis machten die Teilnehmenden auch Halt an der alten Gedenktafel in der Jahnstraße 3, die an das jüdische Getto erinnert.

Mit einem stillen Gedenken der Anwesenden angesichts der Porträts von ermordeten, verschollenen und zu Tode geschundenen jüdischen Bügerinnen und Bürgern aus Wetzlar endete die Feier – musikalisch begleitet mit Klezmermusik von Wolfgang Grünhagen (Klarinette) und Ursula Fokken (Bassklarinette).

Weitere Informationen gibt es auf der Webseite des Vereins „Wetzlar erinnert“ unter der Rubrik „Gedenken“:

www.wetzlar-erinnert.de

Die Statements der kirchlichen Vertreter sind hier zu finden:

Statement Superintendent Hartmut Sitzler

Statement Pfarrer Wolfgang Grieb

Statement Pfarrer Peter Hofacker

bkl

 

Bild 1: Enthüllung der Tafel zur Erinnerung an die Wetzlarer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vor dem Friedhof in Niedergirmes (v.l.): Jörg Kratkey, Viola Krause, Peter Hofacker, Irmtrude Richter und Hartmut Sitzler.

Bild 2: Zahlreicher solcher kleinen Tafeln befinden sich auf dem Gräberfeld für Zwangsarbeiter des Friedhofs in Niedergirmes.

Bild 3: Ein Innehalten gab es auch vor der alten Gedenktafel an das jüdische Getto in der Jahnstraße selbst.

Bild 4: Ernst Richter berichtete auf dem Weg vom Friedhof zur Kirche von den Ereignissen zur Zeit des Nationalsozialismus, hier in der Jahnstraße.

Bild 5: Enthüllung der Tafeln an der Kirche St. Walburgis zur Erinnerung an das jüdische Getto in der Jahnstraße (v.l.): Jörg Kratkey, Peter Hofacker, Hartmut Sitzler, Wolfgang Grieb und Irmtrude Richter.

Die neuen Gedenktafeln erreichen ein breiteres Publikum, das sie von einer stärker genutzten Straße aus sichtbar sind und auf weitere Informationen anhand eines QR-Codes verweisen.

Bild 6: Superintendent Hartmut Sitzler stellte die Bedeutung der Erinnerung in den Mittelpunkt seines Statements.

Bild 7: Pfarrer Wolfgang Grieb benannte in seiner Rede unter anderem den Reichtum jüdischer Kultur.

Bild 8: Pfarrer Peter Hofacker las aus dem Tagebuch der niederländischen Jüdin Etty Hillesum.