Gedenken an 80 Jahre Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion:

Ein „Pilgerweg des Gerechten Friedens“ durch Gassen und Gärten des alten Arbeiterviertels in Niedergirmes; sehr persönlich gehaltene Reden der Erinnerung und Mahnung; ein Kranz der Stadt Wetzlar an einem Gedenkstein auf dem Friedhof aufgestellt; Schüler der Bebelschule, die Einblick in Leben und Sterben der Zwangsarbeiter in Wetzlar gaben; meditative Cello-Musik; der Segen eines russisch-orthodoxen Priesters – ein würdiges und facettenreiches Gedenken war es, das am Abend des 22. Juni bei den Teilnehmenden viele eindrückliche Impulse setzte.

Den Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion vor genau 80 Jahren hatten der Evangelische Kirchenkreis an Lahn und Dill mit dem Arbeitskreis Frieden und dem Osteuropa Ausschuss sowie der Verein „Wetzlar erinnert“ zum Anlass dieser mit viel Einsatz vorbereiteten Gedenkveranstaltung genommen.

„Ich habe von meinem Großvater die Sehnsucht nach Frieden geerbt und die Einstellung, jeden Menschen so anzusehen, als wäre Christus gerade für ihn gestorben“, betonte Superintendent Dr. Hartmut Sitzler auf dem Friedhof Niedergirmes am Gräberfeld für Menschen, die in Wetzlar Zwangsarbeit leisten mussten. Der leitende Theologe des Kirchenkreises an Lahn und Dill erzählte von einer Kiste mit „Feldpostbriefen voller Liebe, Trost und Hoffnungen“, die er als Enkel von dem 1944 auf der Krim gefallenen Pfarrer der Bekennenden Kirche geerbt hatte. Nicht um Zahlen ginge es in Kriegen, sondern um Menschen. Das Glück der Zwangsarbeiter in dem vor ihnen liegenden Gräberfeld sei viel zu früh abgeschnitten worden. „Möchte doch der Tag kommen, an dem die Völker ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und die Menschen nicht mehr lernen, Krieg zu führen, wie der Prophet Micha schreibt“, schloss er seine Ansprache (Micha 4, 3).

Schülerinnen und Schüler einer 9. Klasse der Augst-Bebel-Schule gaben mit ihrer Lehrerin Agnes Adamietz einen Einblick in den Alltag der Zwangsarbeitenden. Im Religionsunterricht hatten sie zuvor das Thema „Leben und Tod“ bearbeitet und sich dabei intensiv mit dem Gräberfeld der Zwangsarbeiter und der Frage beschäftigt, wie traurig es für einen Menschen sein muss, einsam in einem fremden Land zu sterben.

„Mit Ihrem Gedenken setzen Sie ein starkes Zeichen“, so Oberbürgermeister Manfred Wagner vor dem Kranz der Stadt Wetzlar stehend zu den Anwesenden. Deutschland habe unermessliches Leid über die Menschen in Belarus, in der Ukraine und in Russland gebracht, zeichnete er die Geschichte des Zweiten Weltkrieges, der Opfer und der im Altkreis Wetzlar lebenden Zwangsarbeiter nach. Dabei wies er auf die 276 ausländischen Menschen im Gräberfeld des Friedhofs hin. Wagner rief dazu auf, an der Zukunft zu arbeiten, „damit diese Gräueltaten nicht vergessen werden und wir die Zukunft gemeinsam gestalten können.“

Ökumenische Verbundenheit im Gedenken wurde deutlich durch die Beteiligung der katholischen Kirche (Wetzlar) mit Bezirksdekan Pfarrer Peter Hofacker (Gebet) und der Russisch-Orthodoxen Gemeinde Gießen mit Mönchspriester Kornelius Heinrich (Segen). Die Moderation auf dem Friedhof hatte die evangelische Pfarrerin Ellen Wehrenbrecht übernommen. Musikalisch gestaltete Maria Monninger (Cello) das Gedenken.

Begonnen hatte die Veranstaltung an den Gedenktafeln zum Zwangsarbeiterlager der Buderusschen Eisenwerke beim Möbelhaus IKEA.

Nach dem Krieg sei anfangs noch der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Profitgier und Kriegsgefahr bewusst gewesen, erklärte Klaus Petri, der für den Verein „Wetzlar erinnert“ zum Thema „Kriegsökonomie im Nationalsozialismus“ sprach. Doch schon bald sei es wieder zur Aufrüstung gekommen. Petri stellte das Schicksal des Buderusarbeiters Erich Deibel dar, der wegen angeblicher „Vorbereitung zum Hochverrat“ verurteilt und umgebracht wurde. Die kirchliche Partnerschaft mit Tambow, die Hilfsaktionen für die Kinder von Tschernobyl sowie die Aktivitäten der Deutsch-Weißrussischen Gesellschaft bezeichnete er als segensreiche Initiativen, die den Kulturaustausch sowie die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn voranbrächten.

Die Kaufmännische Mitarbeiterin bei Leica Yuliya Vasiuchenka, in Vitebsk in Belarus geboren und Mitglied der Deutsch-Weißrussischen Gesellschaft, berichtete von ihrer jetzt 88-jährigen Großmutter, die als zwölfjähriges Mädchen das Schicksal einer Zwangsarbeiterin erlitt. „Nur durch persönliche Begegnungen wie zwischen Menschen aus Belarus und aus Deutschland bildet sich ein gemeinsames Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens“, machte sie deutlich. „Dann sind Fremde keine Feinde mehr. Aus Fremden werden Freunde.“

Begrüßt hatte die etwa 100 Anwesenden Ernst von der Recke, Vorsitzender des Arbeitskreises Frieden.

 

 

Hintergrund und Spendenaufruf
Mit etwa drei Millionen Soldaten hat die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 ohne Kriegserklärung die Sowjetunion angegriffen. Der Krieg unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ endete mit dem Tod von Millionen von Menschen auf allen Seiten und letztendlich mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8./9. Mai 1945.  Zu den Zielen Hitlers im Deutsch-Sowjetischen Krieg gehörte die Ermordung der jüdischen Bevölkerung und der sowjetischen Führungsschicht sowie die wirtschaftliche Ausbeutung der eroberten Gebiete.  Diese Gebiete wollte Hitler „germanisieren“, dort Deutsche ansiedeln. Gab es zunächst militärische Erfolge auf deutscher Seite, so führten die Schlacht um Moskau Ende 1941 sowie die Schlacht um Stalingrad 1942/43 letztendlich zur vollständigen Niederlage der deutschen Armee. Die Sowjetunion hat die meisten Opfer des Zweiten Weltkrieges zu beklagen, wobei die Mehrheit Zivilisten waren. Mehr als die Hälfte der insgesamt im Zweiten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten starben an der Ostfront. Unter ihnen waren auch hunderte junger Männer aus Wetzlar und Umgebung.

 

Der Osteuropa Ausschuss im Evangelischen Kirchenkreis an Lahn und Dill möchte ein Zeichen der Versöhnung setzen und die Arbeit von Abt Sergej, dem Vorsteher eines Klosters in Sumarokowo in der Nähe von Moskau, unterstützen. Hier verlief während des Zweiten Weltkrieges die Frontlinie zwischen der russischen und der deutschen Armee. 1945 zerstörten deutsche Soldaten den Turm der dortigen Kirche. Abt Sergej sammelt Spenden für den Wiederaufbau. Wer mithelfen möchte, kann einen Betrag auf folgendes Konto überweisen:

Evangelischer  Kirchenkreis an Lahn und Dill
IBAN DE59 515 500 35 00 100 30 906
Stichwort „Sumarokowo“

bkl

 

Bild 1: Superintendent Dr. Hartmut Sitzler hatte den Anstoß zur Gedenkveranstaltung “80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion” gegeben.

Bild 2: Am Gräberfeld für Zwangsarbeiter auf dem Friedhof in Niedergirmes sprach Superintendent Dr. Hartmut Sitzler über eine Kiste mit Feldpostbriefen und seine Sehnsucht nach Frieden.

Bild 3: Pfarrerin Ellen Wehrenbrecht moderierte das Gedenken auf dem Friedhof.

Bild 4: Oberbürgermeister Manfred Wagner zeichnete die Geschichte der Opfer des Zweiten Weltkrieges nach.

Bild 5: Bezirksdekan Peter Hofacker sprach ein Gebet.

Bild 6: Ernst von der Recke vom Arbeitskreis Frieden hatte die Anwesenden auf dem IKEA-Gelände begrüßt.

Bild 7: Klaus Petri sprach auf dem IKEA-Gelände vor den Gedenktafeln für den Verein “Wetzlar erinnert.”

Bild 8: Yuliya Vasiuchenka von der Deutsch-Weißrussischen Gesellschaft ließ Erinnerungen an ihre Großmutter wach weren, die schon als Kind Zwangsarbeit leisten musste.