Telefonseelsorge: Anrufe von Menschen, die sich nicht verstanden fühlen:

An die Telefonseelsorge wenden sich auch Menschen, die Probleme mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht haben. Darauf hat der katholische Pastoralreferent Gerhard Schlett hingewiesen, der gemeinsam mit seiner evangelischen Kollegin, Pfarrerin Martina Schmidt, die Telefonseelsorge Gießen-Wetzlar leitet.
Aus diesem Grund hatten die beiden Leiter die Pro Familia-Beraterin Anke Bäumker zu einem Vortrag eingeladen. Die Referentin erläuterte, dass die früheren Geschlechterzuweisungen Mädchen und Jungen heute zu kurz greifen. Die Menschen leben in einer Geschlechtervielfalt. Kinder könnten schon im Alter von drei oder vier Jahren wahrnehmen und auch äußern, dass ihre geschlechtliche Zuordnung nicht zu dem passt, was sie fühlen.

Man spricht von „cis“-geschlechtlich, wenn das Geschlecht, das einem bei der Geburt zugewiesen wurde, mit der Identität übereinstimmt, so Bäumker. „Trans“ ist ein weiterer Begriff, der bezeichnet, wenn die Geschlechtsidentität vom zugewiesenen Geschlecht abweicht. Und die Referentin erklärte auch den Begriff „Inter“, der benutzt wird, wenn kein eindeutiges Geschlecht zugewiesen werde. Seit Anfang des Jahres gibt es die Möglichkeit in das Geburtsregister neben „weiblich“ und „männlich“ auch „divers“ einzutragen, wenn das Geschlecht nicht eindeutig bestimmt werden kann. Bäumker geht davon aus, dass in Deutschland jährlich zwischen 100 und 150 Kinder geboren werden, für die das zutrifft.

Sie empfahl den Telefonseelsorgern die Anrufer zu fragen, wie sie angesprochen werden möchten. Ein Teilnehmer des Vortrages berichtete, dass er einen Anruf hatte, bei dem die hilfesuchende Person mit männlich klingender Stimme zu vernehmen war, aber die Anruferin erklärte, dass sie als Frau angesprochen werden möchte.
Bäumker erläuterte, dass der betroffene Personenkreis sich oft von seiner Umgebung, auch der Familie nicht verstanden fühle. Deshalb würden sie bei der Telefonseelsorge auf Verständnis hoffen.
Noch immer würden die meisten Menschen in binären Geschlechtern denken, also Mann und Frau. Sie unterschied zwischen „biologischem Geschlecht“, sozialem Geschlecht (wie werde ich gesehen)und der Identität, dem empfundenen Geschlecht.
In diesem Zusammenhang erläuterte sie auch den Begriff „Gender“, der für das soziale Geschlecht benutzt werde und beispielsweise Rollenerwartungen und -zuschreibungen umfasst wie auch Verhaltensweisen.

Für Menschen, die mit den bisherigen Einteilungen „Mann/Frau“ nicht zurecht kommen, sei es wichtig einen Begriff zu haben, der ihnen bei der eigenen Identitätsfindung hilft. Im Alltag gebe es noch genügend Probleme, die bewältigt werden müssten. Dabei sei die Frage der Toilette noch eine der Herausforderungen, auf die die Gesellschaft pragmatische Lösungen finden könnte. Schwieriger ist es, die Vorurteile aufzulösen.
Wer sich beispielsweise mit einem Bild bewirbt, auf dem er männlich aussieht, aber der Text die Person als Frau vorstelle, erhalte meist eine Absage. Für Betroffene sei es eine Dauerbelastung sich nicht zugehörig zu fühlen. Die Suizid-Rate bei Trans-Personen sei siebenfach höher. Sie litten darunter ausgegrenzt und diskriminiert zu werden. Oder auch Gewalt und Hass zu begegnen.
Schließlich ging die Referentin auf die Frage ein, was denn „queer“ bedeute. Der englische Begriff bezeichnet Handlungen und Personen, die von der bislang üblichen Norm abweichen. Menschen, die so empfinden, treffen sich beispielsweise im „Cafe queer“ im Jugend- und Kulturzentrum Jokus (Ostanlage). Junge Menschen, die sich in ihrer Umgebung nicht outen möchten, würden aber auch den Weg nach Frankfurt auf sich nehmen, um sich im Kuss41, einem queeren Jugendzentrum zu treffen.

Bäumker erläuterte, dass viele Angst hätten, nicht mehr geliebt zu werden, wenn sie sich outen. Jugendliche erzählten zuerst Freunden, was sie beschäftigt. Wenn sie sich an Eltern wenden, dann an die Mutter. Vor der Reaktion der Väter herrsche häufig ganz große Angst. Hier fänden oft Kontaktabbrüche statt. Die Betroffenen bekäme Sätze wie „Dann bist du nicht mehr meine Tochter / mein Sohn“ zu hören.

Die Telefonseelsorger bestärkte Frau Bäumker: „Sie müssen am Telefon gar nicht viel wissen. Es reicht mit fragender Haltung auf die Anrufer zu reagieren“. Eine der Teilnehmerinnen sagte zum Abschluss des Vortrages: „Ich finde es toll, dass wir durch die Schulung sprachfähiger werden und das Thema bei uns nicht negativ besetzt ist.“

Seit 1978 gibt es in Mittelhessen die Telefonseelsorge. Durch die zunehmende Digitalisierung sind die rund 70 Seelsorger heute nicht mehr nur auf die Region beschränkt. Anrufe aus der ganzen Bundesrepublik werden von ihnen entgegengenommen, jährlich rund 10 000 Hilferufe von Menschen in Not. Sie sind rund um die Uhr erreichbar unter den Telefonnummern 0800/1110111 und 0800/1110222). Jeder Anrufer bleibt anonym und alle Gespräche sind vertraulich.

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[vc_single_image image=”7422″ img_size=”full”]Bild von links: Pfarrerin Martina Schmidt, Pro Familia-Beraterin Anke Bäumker und Pastoralreferent Gerhard Schlett beim Vortrag über die Geschlechtervielfalt.