Die erste Predigt zum Sonntag Judika stammt von Marie-Noëlle von der Recke, ehemalige Generalsekretärin von Church and Peace:

Predigt zum Sonntag Judika, 29. März 2020
Predigttext: 2. Timotheus 1, 7

Im 2. Timotheusbrief heißt es im 1. Kapitel:

Jedes Mal, wenn ich bete – bei Tag und bei Nacht –, denke ich auch an dich und bin dann immer voll Dank gegenüber Gott, dem ich – wie schon meine Vorfahren – mit reinem Gewissen diene. Und wenn ich daran zurückdenke, wie du ´bei unserem Abschied` geweint hast, sehne ich mich danach, dich wieder zu sehen. Was wäre das für eine Freude! ´Voller Dankbarkeit` erinnere ich mich an deinen Glauben, der so völlig frei ist von jeder Heuchelei. Es ist derselbe Glaube, der bereits deine Großmutter Lois und deine Mutter Eunike erfüllte; und auch in dir – davon bin ich überzeugt – ist dieser Glaube lebendig.

 Aus diesem Grund erinnere ich dich an die Gabe, die Gott dir in seiner Gnade geschenkt hat, als ich dir die Hände auflegte. Lass sie zur vollen Entfaltung kommen! Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Ängstlichkeit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (neue Genfer Übersetzung)

Die Timotheusbriefe richten sich an einen Gemeindeverantwortlichen, einen Schüler des Paulus, der zutiefst verunsichert war. Verunsichert, unter anderem weil er noch sehr jung war und scheinbar sich in seiner Aufgabe überfordert fühlte. Heute würde man sagen, dass er an einem Burnout litt. Beide Briefe sollen ihn trösten und ermutigen, mit erneutem Elan an seine Arbeit ran zu gehen.

In seiner Begrüßung gedenkt Paulus dankbar seiner eigenen Verwurzelung im Glauben seiner Vorfahren. Er wünscht sich, Timotheus persönlich zu sehen. Er versichert ihm, für ihn zu beten. Er betont auch, dass er sich an den Glauben der Mutter und der Großmutter von Timotheus erinnert.

„Darum“, das heißt, „auf Grund dieser tiefen Verbundenheit im Glauben“, darum erlaubt er sich, Timotheus zu ermuntern. Und das tut er, in dem er ihn mit einfachen Worten an Sachen erinnert, die er eigentlich schon weiß:  Er soll darüber nachdenken, was ihm gegeben wurde, als er in seinen Dienst eingesetzt wurde und an das, was er kann. Und das liegt nicht an seinen besonderen persönlichen Fähigkeiten, an seiner eigenen Stärke. Diese fehlt ihm ja gerade. Er soll sich an ein Geschenk Gottes erinnern. Dieses wurde ihm zugesprochen, als er seinen Dienst antrat. Daran, meint Paulus, soll er nun denken, er soll sich darauf zurückbesinnen, um für seine Aufgabe wieder Feuer zu fangen.

Wozu eine Aufforderung, nach hinten zu gucken, wenn Timotheus sich jetzt mit seiner Situation so schwer tut? Der Blick zurück soll der Stimmung widersprechen, die Timotheus heute in ihrem Griff hält. Verschiedene Bibelübersetzungen drücken diese Stimmung unterschiedlich aus mit Worten wie Angst, Furcht, Ängstlichkeit, Verzagtheit. Dagegen gilt es, Einspruch zu erheben und dies auf der Basis vergangener Erfahrungen.

Mit drei Worten beschreibt Paulus das „Gegengift“, das, was es braucht, um diese Stimmung zu überwinden: Gott hat uns gegeben den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Daran soll sich heute Timotheus erinnern:

– Kraft. Power. Ein Begriff, der in der Bibel viel benutzt wird, besonders um von Gott zu sprechen und von Jesus. Die Briefe des Paulus benutzen das Wort immer wieder. Das Wort „dunamis“ ist in unseren eigenen Sprachgebrauch eingegangen. Timotheus wird erinnert an die Dynamik des Geistes, die Kraft, mit der Jesus Menschen geheilt hat, an die Kraft Gottes, die einen Saulus zum Paulus gemacht hat, an die Kraft der Auferstehung, an die Dynamik der Verwandlung, die von Gott selbst kommt. Wer sich schwach fühlt, muss nicht verzweifeln. Denn gerade wenn wir uns unserer Schwachheit bewusst werden, gerade dann, meint Paulus an anderer Stelle, erleben wir diese Kraft Gottes. Das ist ein Paradox, eine gewagte Behauptung! Doch daran soll sich Timotheus erinnern.

– Liebe, nicht nur natürliche Zuneigung, sondern Agape, die Liebe, die Gemeinschaft stiftet, die Feindschaft überwindet und Menschen aufbaut. Solche Liebe ist wichtig, um Gemeindeleben zu gestalten, um Brüder und Schwestern zusammen zu schweißen, um alle Menschen in den Blick zu bekommen, nicht nur die Freunde, nicht nur die netten Leute, sondern auch die Gegner und die Feinde. Auch diese Liebe kann nur ein Geschenk Gottes sein. Zeiten der Verunsicherung oder der Verzweiflung wie solche, durch die Timotheus geht, nagen an der Liebe, an dem langen Atem, an dem Wohlwollen für andere Menschen, besonders für schwierige Menschen. An das Geschenk der Agape-Liebe soll sich Timotheus erinnern.

– Besonnenheit. Manche Übersetzungen sagen hier: Selbstdisziplin. Luther nutzte das Wort Zucht. Das griechische Wort hat die Nuancen von „Geistiger Gesundheit“, „Disziplin“, „Mäßigung“ und „Selbstbeherrschung“, „gesunder Verstand“, „richtige Erkenntnis“. In einem Lexikon der Synonyme finden sich für Besonnenheit Worte wie Vernunft, Verstand, Ruhe, Weisheit. Auch dieses ist die Gabe, auf die Timotheus in seiner Situation setzen kann – Medizin, die ihm helfen soll, Selbstmitleid, hektische Gedankengänge und eine aufgewühlte Stimmung zu lindern. Daran soll Timotheus sich erinnern.

Drei Worte für eine neue Sicht der Dinge, drei Worte, um die Krise durchzustehen, drei Geschenke, um die eigene Berufung mit erneuerter Freude zu erfüllen: Kraft, Liebe und Besonnenheit.

An diesem Vers dachte ich, als ich überlegte, was in Zeiten wie der unseren gut tut. Die Probleme, die Timotheus verunsicherten, sind vielleicht nicht unsere, aber auch wir sind durch die Pandemie, die dabei ist unsere Welt zu lähmen, zutiefst verunsichert. Und die Worte, die Timotheus  zugesprochen werden, können auch uns helfen, unsere eigene Verunsicherung zu überwinden und heraus zu finden, mit welcher Haltung wir der veränderten Situation begegnen wollen.

Als Erstes kann der Blick zurück hilfreich sein, denn in der neuen Situation scheint alles ins Wanken zu kommen und wir verlieren die Orientierung. Bleiben wir verwurzelt in dem Glauben der Menschen vor uns, erinnern wir uns an Zeiten, in denen wir selbst zuversichtlich gewesen waren, gibt das uns eine Grundlage, auf der wir aufbauen können. Interessant ist dabei, dass Paulus das „Ich“, das „Du“ und das „Wir“ abwechslungsweise anspricht: Er steht fest auf dem Boden der Glaubenserfahrung seiner Vorgänger und sie ist auch die Grundlage des Glaubens der Vorfahren von Timotheus. Timotheus wurde persönlich in seinen Dienst eingesetzt, aber der Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit wurde nicht nur ihm gegeben, sondern „Uns“.  Paulus ermutigt einen einzigen Menschen, aber er behält eine weitere Dimension im Blick: die Gemeinschaft. Um die Gegenwart zu bewältigen und die Zukunft zu gestalten, ist es gut, auf Glaubenserfahrungen zurückzugreifen und an der Gemeinschaft der Glaubenden zu bauen. Timotheus ist nicht allein auf weiter Flur. Auch wir sind aufgefordert, das, was trägt, zu erkennen: der Glaube, der uns vermittelt wurde, die Menschen, die uns diesen Glauben weitergegeben haben, die Gemeinschaft, die dieser Glaube gestiftet hat und heute noch stiftet. Auch wir sind nicht alleine auf weiter Flur mit unseren Sorgen. Wir sind besser gerüstet Krisen durchzustehen, wenn unsere persönliche Beziehung zu Gott und unser Leben in der Nachfolge Jesu eingebettet ist in die Gemeinschaft derjenigen, die ihr Leben in Gottes Hand wissen. Das muss heute besonders betont werden in einer Zeit, in der sogar der Gottesdienstbesuch zu einer Ansteckungsgefahr geworden ist. Es ist umso wichtiger, Gemeinschaft zu pflegen! Fantasie ist da gefragt, um alternative Wege zueinander zu finden!

In den letzten Tagen habe ich immer wieder über die drei Worte gegen die Ängstlichkeit von Timotheus nachgedacht. Mir scheint, dass sie genau das beschreiben, was wir heute brauchen: Eine Spiritualität für Krisenzeiten.

Der Geist der Besonnenheit:
Wir sind verunsichert. Ich bin verunsichert. Wir sind so gewohnt, über unser Leben zu bestimmen. Auf einmal stimmt das nicht mehr. Wir sind erschüttert. Wir haben nicht mehr alles im Griff. Wir merken, dass wir verwundbar sind. Wir sind aber auch desorientiert: Was machen mit Falschmeldungen und Verschwörungstheorien, die sich schneller verbreiten als die Krankheit?

Es braucht zur Zeit Menschen, die zwischen Panikmache und Beschwichtigungen einen kühlen Kopf behalten, ein Wort der Weisheit sprechen, sich mit überschnellen Beschuldigungen zurückhalten, also den Geist der Besonnenheit, den Paulus als ein Gottesgeschenk beschreibt, ausstrahlen. Fundierte Informationen weiterzugeben gehört dazu, Fake News immer wieder zu widersprechen. Es ist zur Zeit sehr wichtig, dass wir für Menschen in Verantwortung um diesen Geist der Besonnenheit bitten, denn sie müssen schwere Entscheidungen treffen. Wir alle brauchen Weisheit, Mäßigung, Verstand, sie aber ganz besonders. Der Timotheusbrief versichert uns: Dieser Geist ist uns gegeben!

 

Der Geist der Liebe:
Es ist erfreulich zu sehen, wie sich zur Zeit das Leben neu organisiert und viele Zeichen der Solidarität von Nachbarinnen und Nachbarn gesetzt werden. Kontakte über Telefon und WhatsApp überbrücken die Distanz, man erkundigt sich mehr nacheinander als vor der Krise. Die Hingabe des medizinischen Personals ist besonders vorbildlich. Schwer zu verstehen, für Kinder und Menschen mit Behinderungen, dass Liebe zur Zeit am Besten durch physische Distanz zum Ausdruck kommen soll. Auch hier ist unsere Fantasie gefragt, neue Wege zu finden für unsere Kontakte zu Menschen, die wir lieben, und zu den Schwächsten unter uns. Der Geist der Liebe drängt uns aber, über den Kreis unserer Freunde und Verwandte hinaus zu schauen.  Denn, wenn wir so fixiert sind auf die Folgen der Epidemie für unser Leben und für unsere Wirtschaft, dann blenden wir viel gravierendere Probleme aus. Täglich sterben Kinder im Krieg in Syrien. Eine Tragödie spielt sich in Idlib ab und auch an den Grenzen Europas, wo Tausende von Flüchtlingen vergeblich um Aufnahme flehen. Der Terrorismus macht jahrzehntelange Entwicklungsarbeit in Afrika zunichte… Was ist nun akuter? Der Mangel an Desinfektionsmitteln in unseren Apotheken oder das elende Sterben in den Kriegen dieser Welt? Der Geist der Agape-Liebe hat einen weiten Horizont. Wir sind herausgefordert, über uns hinaus zu gucken!

 

Der Geist der Kraft:
Paulus erinnert Timotheus an den Geist der Kraft. Wohl gemerkt, nicht der Allmacht oder der Stärke. Kraft von Gott erleben Menschen, die sich ihrer Schwachheit bewusst sind. Es sind keine Supermänner oder Superfrauen die über magische Fähigkeiten verfügen. Wir sehen zur Zeit, wie verwundbar wir als Menschen und als Gesellschaft sind. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Eine notwendige End-täuschung. Die Medizin gegen Verwundbarkeit ist nicht die Stärke, auf die unsere Welt setzt, privat wie beruflich, wirtschaftlich und politisch. Gegen Ohnmachtsgefühle hilft nur, dass wir uns unsere Armut eingestehen und unsere Verwundbarkeit zugeben und uns dem Gott Jesu anvertrauen, der uns kennt und uns liebt und uns seine Kraft gibt.

Die Krise, durch die wir gehen, betrifft alle und gefährdet besonders die Schwächsten. Es wäre verständlich, in den Strudel der Depression oder der Panik zu geraten und sich von den widersprüchlichen Gefühlen treiben zu lassen. Die Seelsorge an Timotheus kann auch uns helfen, die Situation anders zu sehen. Da gilt es, sich an Essentials zu erinnern, die uns wieder auf die Füße bringen:

Es gibt die Geschichte der Glaubenden, ihre Gotteserfahrungen durch dick und dünn. Dieser Geschichte können wir uns jeder Zeit anschließen, sie zu unserer Geschichte machen. Auf dem Weg nach Karfreitag und Ostern gedenken wir der Ereignisse, die den Höhepunkt dieser Geschichte darstellen: Jesu Weg ans Kreuz und seine Auferstehung – Grund aller Hoffnung.

Es gibt die Gemeinschaft nach dem Willen Gottes: die Gemeinde Jesu. Manchmal ist sie ein Ort zum Kuscheln und das ist schön, aber noch wichtiger ist sie eine Realität, die in Zeiten der Krise trägt.

Es gibt Antidoten gegen die Ängstlichkeit. Jesus, den wir als unseren Erlöser und Herrn bekennen, hat sie am Besten verkörpert: den Geist der Kraft, der uns gerade in unseren tiefsten Momenten berühren und verwandeln will, den Geist der Liebe, der uns ein unendliches Übungsfeld für den Alltag bietet und den Geist der Besonnenheit,  der uns helfen will, einen kühlen Kopf in turbulenten Zeiten zu bewahren.

Marie-Noëlle von der Recke, ehemalige Generalsekretärin von Church and Peace