Diese Predigt zu Ostermontag hat Manuela Bünger geschrieben, Pfarrerin der Kirchengemeinden Dorlar und Atzbach.
Liebe Gemeinde!
Irgendwann muss man sich vom Grab losreißen. Man kann nicht ewig dort stehen bleiben. Die engsten Angehörigen reisen wieder ab. Die Trauernden sind dann mit sich und dem Schmerz allein.
Auch die beiden Jünger Jesu machen sich auf den Weg, den Trauernde gehen müssen. Weg vom Ort des Todes zurück in den Alltag nach Emmaus. Sie gehen gemeinsam. Sie teilen die Traurigkeit miteinander. Sie tun das, was für alle Trauernden in unserer heutigen Zeit so unendlich wichtig wäre: Reden. Trauernde möchten durchaus reden, aber sie möchten niemandem zur Last fallen, wenn die Klagen, die Anklagen und die Tränen aus ihnen herausbrechen. Nur niemanden belästigen! Aber genau das ist das Schwerste an der Trauerbewältigung, wenn man niemanden hat, mit dem man reden kann. Diese beiden reden „von all diesen Geschichten“. Dreimal wird das hervorgehoben, damit wir nur ja daraus lesen, wie richtig und wichtig das Reden ist.
Und da kommt plötzlich einer und macht „Trauerbegleitung“, wie wir das heute nennen. Jesus. Und er tut das auf ganz eigentümliche Weise. Er hätte ja auch kommen und sagen können: „Ich bin auferstanden – Schluss mit der Traurigkeit. Es ist doch alles wieder gut!“ Das tut er merkwürdigerweise nicht. Er beginnt ganz anders. Er nähert sich, und er geht mit. Er geht einfach mit und lässt sie reden, ja er ermutigt sie durch seine Nachfrage sogar zum Reden und hört erst einmal nur zu.
Trauernde bei uns erleben das oft anders. Da wird gesagt: „Das Leben muss weiter gehen!“ Oder: „Jetzt können wir nichts mehr ändern. Man muss sich fügen.“ Oder: „Die Zeit heilt Wunden.“ Das ist alles richtig, ohne Zweifel. Aber wenn es dazu dient, dass der trauernde Mensch nicht mehr reden darf, dann sind solche Sätze eher Ausdruck grober Lieblosigkeit, ein Zeichen dafür, dass der andere Mensch zur Wegbegleitung nicht bereit ist. Und das spüren Trauernde und verstummen.
Diese beiden Männer dürfen sich alles von der Seele reden, was darauf liegt. Jesus lässt sie erzählen, unterbricht sie nicht, verbessert sie nicht.
Er lässt sie auch erzählen, wo die beiden jetzt stehen: „Über alles ist heute der dritte Tag …“, und sie sind verwirrt über die Geschichten der Frauen am Grab. Erst hier mischt sich Jesus ein, erst als sie die Vergangenheit durchwandert haben und bei der Gegenwart angekommen sind. Erst hier und kein bisschen vorher versucht er eine Blickveränderung anzubahnen. Erst als sie ihren Schmerz und ihre Trauer ausgesprochen (oder vermutlich eher heraus gestammelt) haben, bringt er sich nun selbst ein und versucht eine geistliche Ebene, den Trost eines Sinnes aufzuzeigen. Er tut dies mithilfe biblischer Texte.
Doch noch immer – so heißt es – wurden ihre Augen gehalten und erkannten ihn nicht. Treffender lässt sich kaum beschreiben, wie Trauernden zumute ist, was sie sehen und nicht sehen können und auch gar nicht sehen wollen. Oft führen die anderen harmonische und versöhnliche Bilder vor Augen. Aber die Trauernden können sie nicht sehen. Ihre Augen sind festgehalten von den Bildern des Sterbens. Wie schrecklich war der Anblick in der Klinik, als man den geliebten Menschen nur noch fast nackt an den Schläuchen hängen sah. Wie schrecklich der abgemagerte Körper. Wie schrecklich das vom Unfall verunstaltete Gesicht. Es ist alles nur schrecklich. Und da soll man so einfach Tröstliches hervorrufen können? Außerdem empfindet man dies auch als Verrat am Verstorbenen, wenn man sich zu schnell ablenken lässt.
So schnell geht es eben nicht, darum sind die Augen der Trauernden gehalten. Man kann sie ihnen nicht gewaltsam öffnen und das tut Jesus auch nicht. Er lässt es so stehen und verabschiedet sich. Für heute war`s genug!
Aber die beiden haben gespürt: Hier ist ein wahrhaft tröstender Begleiter. Den werden wir noch einmal brauchen. Der kann zuhören. Und so kommt es zu dem Wunsch: „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget.“ Die Nacht ist für Trauernde ganz besonders schlimm, wenn alles so still ist und die Einsamkeit einen zu ersticken droht.
In unserer Geschichte geschieht nun etwas, was über menschliche Trauerbegleitung hinausgeht. Jesus bleibt, er kann bleiben. Raum und Zeit sind für ihn keine Grenzen mehr. ER geht mit ihnen in die Nacht und hilft ihnen der Nacht standzuhalten mit der Mahlgemeinschaft. Nicht viele Tage vorher gab es auch so eine Mahlgemeinschaft in einer furchtbaren Nacht. Trauernde sagen manchmal: Ich bringe keinen Bissen herunter. Sie können vorübergehend nichts essen. Aber die Gemeinschaft mit Christus ist eine andere – der Anfang eines neuen, langen Weges. Und dieses Mahl, diese Gemeinschaft öffnet ihnen endlich die Augen. Es wird so etwas ansichtig wie ein Sinn in dem Ganzen. „Brannte nicht unser Herz in uns?“
Indem die beiden Jesus einladen, lässt er sich als Heiland erkennen. „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget.“
„Herr, bleibe bei mir…“ Jesus kann bleiben. Raum und Zeit sind für ihn keine Grenzen mehr. Ja, seit Ostern wissen wir: Er ist die ganze Zeit schon da.
Amen.