„Er hat versucht zu helfen. Auf jede mögliche Art und Weise. Aber er konnte nicht verhindern, dass das Nachbarsehepaar vor seinen Augen in den Fluten versank“, berichtet Caroline Dietrich von einem ihrer Gespräche als Notallseelsorgerin im Ahrtal. „Es war sehr wichtig, dass wir jetzt da waren“, erzählt sie weiter über die Begleitung eines betroffenen Mannes. Die Grundschullehrerin und Schulseelsorgerin aus Herborn-Merkenbach engagiert sich seit 16 Jahren bei der Notfallseelsorge Lahn-Dill. Gemeinsam mit dem Wetzlarer Pfarrer Björn Heymer hat sie dieses Gespräch im Gebiet der Hochwasserkatastrophe, die vor fünf Wochen geschah, geführt. „Dadurch, dass wir jetzt zu einem späteren Zeitpunkt kamen, fiel es dem Mann leichter, von den schweren Erfahrungen zu erzählen. Direkt nach dem Erlebnis wäre es zu früh gewesen“, sagt die 56-Jährige. „Er konnte es loswerden und beim Erzählen auch eigene Kräfte entdecken, die ihm bei der Verarbeitung helfen werden. Darüber hinaus weiß er, dass er weiter Hilfe bekommt, wenn er sie benötigt.“ Die Notfallseelsorger haben entsprechende Telefonnummern hinterlassen. Caroline Dietrich hat sich zu diesem Einsatz bereit erklärt, weil sie für die Menschen in dem betroffenen Gebiet da sein wollte und es wichtig findet, dass qualifiziertes Personal wie die Notfallseelsorge dort vor Ort ist.

12 Notfallseelsorgerinnen und Notfallseelsorger aus der Region haben seit Mitte Juli zwei Wochen lang für die Menschen im Überschwemmungsgebiet im Ahrtal zur Verfügung gestanden. „Letztlich wurden wir neun Tage in zwei Teams mit insgesamt zehn Personen eingesetzt“, berichtet Pfarrer Eberhard Hoppe, Leiter der Ökumenischen Notfallseelsorge Lahn-Dill. Dies um die Teams in den von der Flutkatastrophe betroffenen Orten Ahrbrück, Dernau und Kreuzberg zu unterstützen.

Der Katastropheneinsatz in den betroffenen Gebieten rund um die Ahr ist inzwischen offiziell beendet, doch neben anderen führt auch das ökumenische Team der Notfallseelsorge Lahn-Dill seine Arbeit dort weiter. Die Notfallseelsorge vor Ort braucht Erholung und Unterstützung. Beginn war am 16. August mit Gebet und Grußwort der Landespfarrerin für Notfallseelsorge, Bianca van der Heyden sowie von Pfarrer Bernd Bazin, Einsatzleiter Notfallseelsorge in der Katastrophenlage im Ahrtal. Er betreut auch die Notfallseelsorgerinnen und Notfallseelsorger im Einsatzgebiet und koordiniert die Einsätze. Bazin nennt es im Unterschied zur klassischen Notfallseelsorge „Notfallseelsorgesystem plus“, denn die persönlichen Krisen dauerten an, wie er betont. Insgesamt rechnet Landespfarrerin van der Heyden mit mehreren Jahren, innerhalb derer Begleitung für die betroffenen Menschen nötig ist.

Die Einsätze zu mehreren Personen ab Mitte August dauern in der Regel jeweils zwei Tage In der Nacht dazwischen sind die Seelsorger in einem Hotel in Bad Breisig untergebracht und werden auch vor Ort verpflegt. Der Einsatz läuft noch bis zum 31. August. Dann wird die Notfallseelsorge vor Ort wieder die Menschen im Ahrtal begleiten.

In den Straßen liegt immer noch der Schutt, den das Hochwasser hinterlassen hat, in einigen Orten wird auch der Hausmüll nicht mehr abgeholt. Der Verkehr ist sehr dicht, auch Wohnmobile fahren durch die von der Zerstörung betroffenen Ortschaften. „Die älteren Leute gehen hier nur noch mit der Axt ins Bett“, erzählt ein Mann, der von nächtlichen Einbrüchen berichtet. Den Menschen werde so das Letzte, was sie an Besitz haben, auch noch genommen. Es gibt auch Suizide und Suizidgefährdete.

In Ahrweiler gehen Notfallseelsorgerinnen über den völlig verwüsteten Friedhof und treffen eine junge Frau, die das Grab ihrer Freundin gefunden hat, aber verzweifelt den weggeschwemmten Grabstein sucht. Eine ältere Dame, die ihre Wohnung verloren hat, lebt nun in einem Altenheim mit fast ausschließlich Demenzkranken. Sie findet an einem Stützpunkt mit Lebensmittelausgabe und Gesprächsangebot auch Begleitung durch die Notfallseelsorge. Versorgung mit Essen und Getränken, auch Kaffee und Kuchen gibt es an vielen Straßenecken, oft privat initiiert. Im Bürgerhaus in Heppingen erleben Notfallseelsorgerinnen, wie auch Kleider und Hygieneartikel ausgegeben werden sowie Gegenstände für den Haushalts- und Schulbedarf.

Es sind viele Menschen, die ihre Existenz und Angehörige verloren haben oder andere Menschen, die ihnen in ihrem Leben wichtig waren. Manche wissen noch nicht, ob sie in ihre Wohnung oder ihr Haus wieder einziehen können. Die Notfallseelsorger setzen sich an den Lebensmittelausgaben zu Betroffenen und Helfern an den Tisch, hören zu, lassen sich auf Gespräche ein. Oder sie gehen mit ihren lilafarbenen Jacken durch die Straßen und zeigen sich als Kirche vor Ort. Sie signalisieren, dass sie ansprechbar sind und begegnen den Menschen im Kontext des Glaubens. „Ich bin auch in Not und brauche Seelsorge!“, bittet beispielsweise eine Frau spontan, die die Notfallseelsorger erblickt.

Auch die Helferinnen und Helfer erzählen ihre Geschichten: Eine Frau hilft aus Dankbarkeit am Verpflegungsstützpunkt: „Ich kann nicht einfach in meiner schönen, unversehrten Wohnung bleiben und dabei zusehen, wie andere ihr Zuhause verloren haben.“ Eine Frau erzählt von Fluchterfahrungen aus ihrer Kindheit. Sie erlebte, wie ihr damals geholfen wurde und bringt jetzt jeden Tag einen großen Topf Suppe. Eine Dritte erzählt: „Bei mir zu Hause steht ein Trocknungsgerät. Ich muss einfach etwas anderes sehen und engagiere mich daher jetzt hier.“

Auch die Martin-Luther-Kirche in Bad Neuenahr wurde von der Flut schwer getroffen. Die Landessynodalen aus dem Evangelischen Kirchenkreis an Lahn und Dill und ehemals aus den Kirchenkreisen Braunfels und Wetzlar haben dort an vielen Eröffnungsgottesdiensten der Landessynode teilgenommen. Trocken geblieben ist die Altarbibel mit der aufgeschlagenen Geschichte von Jesu Tod und Auferstehung. Drei Tage lang hat Präses Thorsten Latzel die überschwemmten Gemeinden besucht und dort den Menschen zugehört, ihnen Trost und Hoffnung zugesprochen. Auch mit Vertreterinnen und Vertretern der Notfallseelsorge ist der leitende Theologe der rheinischen Kirche dabei ins Gespräch gekommen und hat ihnen für ihren Dienst gedankt.

Die Flutkatastrophe hat in der rheinischen Kirche und auch im Kirchenkreis an Lahn und Dill gleichermaßen für große Bestürzung und Hilfsbereitschaft gesorgt. Gottesdienste für die Flutopfer wie in Krofdorf und Aßlar wurden gefeiert. Viele Menschen haben die Betroffenen mit Gebeten und Geldspenden unterstützt.

Die Kooperation von vielen unterschiedlichen Menschen, Berufsgruppen und Systemen habe sehr gut geklappt, erzählt Pfarrer Hoppe, der neun Tage lang in Mendig ein Camp mit 65 Notfallseelsorgern mitkoordiniert hat. Der Leiter der Notfallseelsorge Lahn-Dill hat zudem selbst viel zugehört und Gespräche geführt. „Die Hilfe wird sehr dankbar angenommen“, sagt er. Betroffene Menschen und auch Sanitäter seien froh darüber, nicht alleine gelassen zu werden. „Abends ist man müde“, schildert Hoppe seine Erfahrungen im Blick auf das ganze Team. Denn acht bis zwölf Lebens- und Hochwassergeschichten sind es in der Regel, die Notfallseelsorger an einem Tag hören. Die vielen Bilder und Erzählungen müssen auch von den Seelsorgekräften selbst verarbeitet werden. Daher wird es im Rahmen der nächsten Notfallseelsorge-Fortbildungsveranstaltung in der Region an Lahn und Dill die Gelegenheit geben, in der Gruppe die eigenen Erfahrungen auszutauschen.

„Man wird sehr dankbar für das, was man zu Hause hat“, sagt Hoppe zum Schluss. Dabei sei nicht das Materielle wie der Garten oder das Auto wichtig. „Dass man Familie hat, ist nichts Selbstverständliches, sondern eine große Bereicherung.“

 

Interview
Über den Umgang mit Betroffenen der Hochwasserkatastrophe spricht der landeskirchliche Pressesprecher Jens Iven mit Landespfarrerin Bianca van der Heyden:

https://www2.ekir.de/aktuelles/E40F1BED02634FBCA1156C7072747D2F/notfallseelsorgerin-wir-muessen-mit-jahren-der-begleitung-rechnen?ref=aHR0cHMlM0ElMkYlMkZ3d3cyLmVraXIuZGUlMkY=

 

Spendenkonto
Die Evangelische Kirche im Rheinland hat gemeinsam mit der Evangelischen Kirche von Westfalen und dem Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe ein Spendenkonto eingerichtet. Gespendet werden kann online  über folgenden Link: https://www.kd-onlinespende.de/projekt/spendenaufruf-unwetter-katastrophe/display/link.html und auf das Konto der Diakonie RWL bei der KD Bank, IBAN: DE79 3506 0190 1014 1550 20, BIC: GENODED1DKD, Stichwort: Hochwasser-Hilfe.

bkl / Fotos: bkl/E. Hoppe

 

Bild 1: Auf dem Friedhof in Ahrweiler steht ein Kreuz auf einem aus Steinen aufgetürmten Berg. (Foto bkl)

Bild 2 und 3: Häuser und Autos wurden durch die Unwetterkatastrophe zerstört. (Fotos E. Hoppe)

Bild 4 und 5: Schutt und Müll liegen auch fünf Wochen nach der Hochwasserkatastrophe noch in den Straßen. (Fotos bkl)

Bild 6: Ein Engel hängt an einem Baum im Garten eines kaputten Hauses. (Foto bkl)

Bild 7: An einer Straßenecke werden Süßes und Getränke angeboten. (Foto bkl)

Bild 8: Spenden werden weiter dringend gebraucht. (Foto bkl)