Am 5. Oktober 1993 unterzeichneten der damalige Superintendent Rainer Kunick und der Tambower Erzischof Evgenij im Evangelischen Rentamt die deutsch-russische Partnerschaftsurkunde. Pfarrer Udo Küppers aus der Heilig-Geist-Kirchengemeinde Wetzlar Dalheim hatte die Urkunde konzipiert und als Vorsitzender des Osteuropa Ausschusses ebenfalls unterzeichnet. Bereits ein Jahr zuvor hatte der Evangelische Kirchenkreis Wetzlar einen einstimmigen Beschluss gefasst: „Der Kirchenkreis Wetzlar tritt mit der Tambower Eparchie offiziell in Verbindung, um die über den Hilfsgüter Transport entstandenen und durch Begegnungen in Tambow und Briefwechsel vertieften Kontakte als Partnerschaft zu gestalten. Diese Partnerschaft soll in wechselseitiger Begegnung geistlichen Austausch und ökumenische Diakonie beinhalten, den geistlichen und praktischen Gemeindeaufbau unterstützen sowie zum Zusammenwachsen der Völker und Menschen in Europa beitragen.“

Erzbischof Evgenij besuchte Wetzlar mit einer elfköpfigen Delegation in einer für sein Land politisch unsicheren Zeit. Bereits 1991 hatte es, kurz nach der Machtübernahme Boris Jelzins als Präsident, von der Seite der kommunistischen Hardliner einen Putsch gegeben. Das Bild des Präsidenten, der auf einem Panzer vor dem Weißen Haus, der Zentrale des Widerstandes, die Demokratie verteidigt, ging damals um die Welt. Symbol für die demokratische Entwicklung in der Russischen Föderation.

Der Besuch der Tambower Delegation fand im Oktober 1993 statt. Zu diesem Zeitpunkt war das Weiße Haus erneut eine Zentrale des Widerstands, diesmal allerdings gegen den Präsidenten. Der ließ seine Gegner, die die von ihm propagierte Demokratisierung nicht mittragen wollten, in der Höhe der Verfassungskrise durch Panzer beschießen. Die Folgen dieser Tage prägen Russland bis heute. Gemeinsam verfolgten die Tambower Gäste mit ihren Gastgebern die Ereignisse vor den Fernsehapparaten.

Gemeinden des Kirchenkreises luden die russischen Gäste ein, diakonische Einrichtungen stellten ihre Arbeit vor, das Krankenhaus lud zur Besichtigung der neuesten medizinischen Geräte ein. In Kindergärten und Schulen waren die Tambower herzlich willkommen, begeistert nahmen sie das Konzert im Dom am Erntedankfest in sich auf. Die orthodoxen Christen gestalteten am frühen Sonntagmorgen die Liturgie in der Kapelle der Familie von Taube in der Goethe Straße mit, sangen das Vaterunser im evangelischen Gottesdienst in Dalheim. Einladungen gab es von der Katholischen Kirchengemeinde St. Markus in Dalheim durch Pater Adalbert Jahn und vom Evangeliums Rundfunk durch Horst Marquardt. Bei einem Empfang des Oberbürgermeisters Walter Froneberg konnte sich Erzbischof Evgenij in das Goldene Buch der Stadt Wetzlar eintragen.

Verständigung und Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion: seit den 50er Jahren hatte die Evangelische Kirche in Deutschland in deutsch-russischen Dialogen und Begegnungen daran gearbeitet. Gemeinden und Kirchenkreise der Rheinischen Kirche waren seit Ende der 80er Jahre Vorreiter auf diesem Weg. So auch die Heilig-Geist-Kirchengemeinde Wetzlar Dalheim und der Kirchenkreis Wetzlar. Mit dem Erscheinen Gorbatschows 1985 schien für die vom Stalinismus geprägte Angst-Gesellschaft der Sowjetunion, die ihre Kraft im Kampf gegen eingebildete Gefahren verbraucht hatte, eine Hoffnung aufzuleuchten. Auch in der freundschaftlichen Partnerschaft zwischen einzelnen Menschen der Kirchen Wetzlars und Tambows ist diese Hoffnung bis heute nicht erloschen.

Ursula Küppers

 

Bild: Nach der Urkundenunterzeichnung (v.l.): Erzbischof Evgenij, Superintendent Rainer Kunick, Pfarrer Udo Küppers und Nadja Murawewa (Übersetzerin)