Bachs Matthäus-Passion im Wetzlarer Dom:
1996 erklang Bachs Matthäus-Passion, eines der Hauptwerke evangelischer Kirchenmusik, zum letzten Mal im Wetzlarer Dom. Nun haben der Wetzlarer Kammerchor, der Potsdamer Kammerchor BelCantoMusicae und der Wetzlarer Jugendchor Heaven’s Voices mit einem Solistenquintett und dem Main-Barockorchester Frankfurt unter Leitung von Dietrich Bräutigam dieses knapp dreistündige Werk überzeugend aufgeführt.
Johann Sebastian Bach (1685-1750) kombiniert in seiner zweiteiligen Passionsmusik den Gang der Passionsgeschichte mit Salbung, Verrat des Judas, Abendmahl, Gefangennahme, Prozess, Verurteilung, Kreuzigung und Grablegung mit Arien, die innehalten und das Geschehen deuten sowie Chorälen (meist von Paul Gerhardt), die den Zuhörer aus seiner Zuhörerrolle herausnehmen und ihn in diese Geschichte hineinstellen.
Sängerinnen und Sänger, Musikerinnen und Musiker und die ausgezeichneten Solisten nahmen die Zuhörer in das dramatische Geschehen hinein. Der Löwenanteil kam dem Evangelisten Nils Giebelhausen (Tenor) zu, der nicht nur mit feinem Gespür den Evangelientext sang, sondern auch – wie im Theater – sich den anderen handelnden Personen zuwandte, dass es auch eben nach Gespräch oder Verhör aussah.
Beeindruckend auch die weiteren Solisten: Katja Stuben (Sopran), Anne Greilung (Alt), Thomas Laske (Bass) und Matthias Weichert (Bass), der die Christus-Partie sang – auswendig! Dietrich Bräutigam hielt alles dich atmosphärisch zusammen, dass die Zuhörer die ganze Gethsemane-Szene des Bittens und Betens sowie der Gefangennahe atemlos verfolgten.
Chöre und Orchester teilte Bach in diesem Werk in zwei Gruppen auf – auch hier ein dialogisches Geschehen, das den Gang der Handlung verdeutlicht und nach vorne bringt. Den Chören steht ein weiterer Chor (die Heaven’s Voices) zur Seite, dessen Partie Bach geschickt in die beiden anderen Chorpartien einwebt. Häufig wechseln die beiden Chöre – wie die Orchester – ab, doch kombiniert schafft Bach tumultuöse Höhepunkte („Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?“).
Der Wechsel von Drama und Innehalten berührt die Zuhörer unmittelbar, gibt aber auch Raum für eigene Gedanken, die Bach mit zarten, kammermusikalischen Instrumentierungen unterstützt – wenn z.B. die Deutung des Tuns Jesu mit den Worten vorweggenommen wird „Aus Liebe will mein Heiland sterben“, nur mit Bläsern besetzt und daher viel eindringlicher, als mit vollem Orchester.
Und wer sich eingehört hatte, dem entgingen auch die Feinheiten der Interpretation nicht, wenn Bräutigam den bekannten – und sicher harmonisch einzigartigen! – Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“, der nach dem Tod Jesu gesungen wird, a capella singen ließ, ohne Orchesterbegleitung, nur von Frauen und Männern.
Langanhaltender Applaus (wieder zu früh einsetzend) dankte den Mitwirkenden für eine grandiose Aufführung.
Siegfried Meier / Fotos lr