Auch Zeitzeugen berichten:

Am Erntedankfest vor 65 Jahren wird die Gnadenkirche in Wetzlar-Büblingshausen in Dienst genommen. In diesem Jahr 2020 wird das Jubiläum ebenfalls am Erntedankfest begangen. Der Festgottesdienst am  4. Oktober beginnt um 11 Uhr und wird wegen Corona-Zeiten draußen im Kirchhof gefeiert. Das Gotteshaus selber aber wird ebenfalls geöffnet und  der Gottesdienst auch nach drinnen übertragen. Jung und Alt sind herzlich eingeladen. Es wird danach ein gemeinsames Mittagessen und auch einen kleinen Markt des Frauenarbeitskreises geben, weil es den traditionellen großen Basar im Corona-Jahr nicht geben kann.

Geplant ist eine besondere Baumpflanzung zum Festakt; ein Spender für einen Gingkobaum ist schon gefunden.

Die Bläser liefern die Festmusik, dort auf dem Balkon unter der Turmuhr, wo auf der Straßenseite Richtung Frankfurter Straße anstatt Ziffern „Zeit ist Gnade“ zu lesen ist. Das wollte der erste Pfarrer Johannes Brückmann verstanden wissen als „ damit wir immer daran denken, unsere Zeit recht zu nutzen und dass sie nur allein Gottes Geschenk ist“.

Zeitzeugen berichten

Das sieht auch die 93-jährige Zeitzeugin Gisela Gaede aus der Landhege so. Sie war zufällig gemeinsam mit ihrem Mann Gerhard auf einem Spaziergang zur Kirche bei der Grundsteinlegung am 11. September 1954  dabei: “Ich erinnere mich noch an den glitzernden Kasten, der in die Erde gelegt wurde. Es herrschte an dem Tag ein unglaublicher Sturm, der dem Kantor Karl-Wolfgang  Schäfer während des Dirigats des Chors die langen weißen Haare vom Kopf abstehen ließ“, lacht die Seniorin. Sie freut sich darüber, dass sie bis heute jeden Sonntag den Gottesdienst in Schriftform ins Haus geliefert bekommt. Der Gang dorthin würde ihr inzwischen schwer fallen. So aber bleibt sie aktives Gemeindeglied.

Überhaupt ist die studierte Kirchenmusikerin voll des Dankes für die wunderschöne schlichte Kirche in ihrem einladenden Grundriss. „Sie selber ist schon wie ein Gebet, so wohltuend und hoffnungsvoll, so zuversichtlich.“ Und sie freut sich sehr über die Kirchengemeinde und ihren Pfarrer Christian Silbernagel. Er ist hier seit 1. Oktober 1999, nach Karl Oskar Henning, der dritte Pfarrer an der Kirche, die ihren Ursprung in einer Not-Baracke hatte. Die Kirche wurde direkt hinter die alte Kirchenbaracke mit dem eisernen Glockenstuhl gebaut. Bis dahin kamen schon sonntäglich mehr als 120 Menschen in die Kirche; der Bretterbau reichte nicht mehr aus.

Geflüchtete damals und heute

Vertriebene und Flüchtlinge fanden ihren Platz in Büblingshausen, auch in Baracken um die Kirche herum. So erinnert sich die knapp 85- jährige Emmi Lederer „Die vielen Flüchtlinge wohnten ja auch im Finsterloh. Die evangelische Frauenhilfe suchte Engagierte zur Unterstützung junger Mütter.“  So wurde Emmis Mutter Margarete Petschel zur „Nährmutter“, weil sie „alle Muttis aus dem Osten mit gefüllten Babyfläschchen versorgte“. Die Seniorin verbindet ihr eigenes Leben mit der Glocke der Gnadenkirche: “Damals vor 70 Jahren- noch für die Kirchenbaracke- haben wir Konfirmandinnen und Konfirmanden in meinem Elternhaus  eine ganz lange Girlande von der Küche über die Treppe bis hin zum Hof aus Tannenzweigen geknüpft. Es war ein Mordsspaß“, lacht sie verschmitzt beim Interview. „Geschmückt konnte die Glocke dann in der Kirchenbaracke installiert und in den Dienst genommen werden“, freut sich die Zeitzeugin. Sie hatte damals auch Kontakt mit Flüchtlingen aus dem Osten.

Es gibt heute auch wieder neue Geflüchtete um die Gnadenkirche herum. Die 48-jährige Amina ist aus Syrien mit beiden Söhnen unter schlimmen Umständen mit dem Boot geflohen; nach zwei Jahren Aufenthalt in drei hessischen Städten in Flüchtlingshäusern ist sie glücklich über das kleine Häuschen und die neue Heimat  in Wetzlar. „Und ich habe auch drum herum ganz besonders nette Nachbarn. Und Pfarrer Silbernagel kümmert sich mit anderen aus der Frauenhilfe und der Montagsgruppe sehr um mich. Sogar auf eine schöne Seniorenreise hat er mich mitgenommen. Ein Geschenk Gottes“ sagt die Muslima über die Christen in Wetzlar.

Also haben wie vor 65 Jahren die Menschen um die Gnadenkirche herum besondere Nächstenliebe an Geflüchteten geübt. Amina sagt: Sie versuche, allen hier etwas von ihrer Hilfe zurück zu geben. Nur eine kleine Arbeit bräuchte sie, die handwerklich Begabte. Für die Basare der Gemeinde hat sie viel ehrenamtlich gewerkelt. Aber ein bisschen Geld würde helfen, das Leben besser zu meistern.

Kleinode in und vor der Kirche

Wenn am 4. Oktober das 65-Jubiläum gefeiert wird, wird manches der Kleinode wieder der Festgemeinde vor Augen und ins Bewusstsein kommen: das wunderbare rot-golden-leuchtende Kreuz aus Frankreich, das der Taizébruder Eric in Südfrankreich vor langer Zeit mit dem dunklen Christusgesicht den Ikonen nachempfunden und gestaltet hat, das nicht den leidenden sondern den auferstandenen Christus zeigt. (Foto) Der wundervolle Altarteppich wurde ab 1958 unter der Leitung von der Malerin Eleonore Großhaupt entworfen. Pfarrer Brückmann hatte während seine Gefangenschaft auf der Kanalinsel Jersey das Knüpfen gelernt, lehrte es die Frauen in Büblingshausen. Die Wolle wurde von einem befreundeten  Chor aus England als Nachkriegs-Geschenk geliefert. Auch die vom Frauenarbeitskreis gearbeiteten Antependien (Altarbehänge) stammen wieder aus der Gemeinde nach dem Entwurf von Resi Schäfer. Von Beginn an waren Frauen und Männer in vorbildlicher Weise an der Entwicklung der Kirche und der Gemeinde beteiligt.

Der erste Pfarrer Johannes Brückmann war zusätzlich Gefängnisseelsorger in Butzbach. Dort lernte er den Schreiner-Künstler Karl Becker kennen, der auf wundervolle Weise eine Intarsienarbeit mit den vier Evangelisten rund um die Kanzel entstehen ließ.

Ein Erbe zum Jubiläum

Und auf eigene Initiative arbeitete im Jahre 2010 der Bildhauer Olaf Schulz.  Heute in Nauborn „Stein und Form“ und früher direkter Nachbar, auch Konfirmand der Gnadenkirche, ließ er sich auch von dem dahinter liegenden Glas-Schöpfungsfenster der Kirche inspirieren:  Er ließ seiner Fantasie Raum und schaffte eine drehbare Komposition aus Granit den „Christus, der die Welt im Arm hält“. Sein Freund Lutz Römschied schuf auf der Rückseite die Gravur „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben….“ Das Kunstwerk ist das Eigentum von Olaf Schulz, aber:“ Anlässlich des 65er Jubiläums werde ich in meinem Testament verfügen, dass es nach meinem Ableben in das Eigentum der Gnadenkirche übergeht“, hat er sich gerade jetzt entschlossen.

Blick in die Zukunft

„Eine schöne Überraschung! Vielleicht gibt s noch mehr davon beim Fest in der Gnadenkirche“, freut sich der amtierende Pfarrer Christian Silbernagel und gibt einen Blick in die Zukunft der Jubiläums-Gnadenkirche: „Ein persönliches Verhältnis zu Gott, zu Jesus Christus, macht Menschen frei. Ich möchte Menschen befähigen selber zu glauben und selber darüber nach zu denken. Die Kirche, wie ich sie mir für die Zukunft vorstelle wäre so, wie ein ehemaliger Konfirmand, der zu eigenem Glauben und Denken gefunden hat, es formulierte: „Die Kirche soll ein Licht in der Dunkelheit sein, ein Wegweiser, Trostspender. Kirche soll keine Moralpredigten halten, soll nicht einen richtigen Weg vorgeben, soll niemanden verurteilen sondern eine Struktur schaffen, in der jede und jeder den Weg finden und sich so entfalten kann, wie es für die Einzelnen bestimmt ist, ohne die anderen dabei in ihren Wegen zu behindern.”

sti

 

[vc_gallery interval=”5″ images=”10727,10728,10729″ img_size=”full”]Bild 1: Gnadenkirche alt nach Postkarte / Christian Silbernagel

Bild 2: Gnadenkirche neu / Heidi J. Stiewink 

Bild 3: Taizé-Kreuz in der Gnadenkirche / Heidi J. Stiewink