Unsere Partnerschaften in aller Welt sind Jahresthema 2022 im Kirchenkreis an Lahn und Dill. Vertreterinnen und Vertreter der entsprechenden kreiskirchlichen Ausschüsse schreiben kleine eindrückliche Geschichten über ihre Erfahrungen.

Aus der Partnerschaft mit der Orthodoxen Diözese von Tambow/ Russland berichtet die stellvertretende Vorsitzende des Osteuropa-Ausschusses, Ursula Küppers:

Es war im Mai 1996 in Tambow. Gegen 21 Uhr fuhren wir los. Mit dem Bus der Gemeinde. Dieser Bus war der ganze Stolz von Vater Niklolaj, dem Priester der Kirche „Aller Leidenden Freude“. Etwa 500 km lagen vor uns, eine Entfernung, die wir in 13 Stunden (!) zurückgelegt haben mussten. Unser Flugzeug nach Frankfurt ging um 12 Uhr ab Sheremetjewo, dem im Norden von Moskau liegenden Flughafen. Zehn ereignisreiche Tage lagen hinter uns, und an Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Laut ging es zu, zwei Stunden verflogen unbemerkt, die Sommersonne lag noch über dem Horizont und tauchte die immer gleichbleibende Landschaft in ein warmes Licht.

Und dann fuhr der Bus rechts raus. Nein, da war kein Parkplatz, aber einige Büsche gab es, hinter die wir uns wohl setzen sollten, so für alle Fälle. Zur Erklärung: wir waren ja nicht auf einer Autobahn unterwegs mit komfortablen Rastplätzen und entsprechenden Einrichtungen, vielmehr auf einer der normalen russischen Überlandstraßen in den 90er Jahren. Auf Überraschungen musste man also gefasst sein! An diesem langsam in die Nacht übergehenden Abend hieß das: der Bus konnte nicht weiter! Während unseres Aufenthaltes in Tambow hatten wir gelernt, dass das zum Alltagsleben des Fahrzeuges dazugehörte. Also, wozu sich aufregen – wir nutzen die Zeit zum Spazierengehen. Und die Fahrer bastelten wie gewohnt an dem Motor herum.

Nach ungefähr 90 Minuten stiegen wir wieder ein – und da bemerkten wir sie: die drei Frauen im Fonds. Frische weiße Kopftücher trugen sie, schauten in ein Buch und sangen! Wir waren so beschäftigt mit uns selbst gewesen, dass wir sie bisher gar nicht wahrgenommen hatten. Ja, wo sie denn hinwollten? Ihre Antwort: Nach Sheremetjewo! Und was sie dort wollten: das wüssten sie nicht; aber Vater Nikolaij hätte ihnen aufgetragen, mit diesem Bus nach Sheremetjewo zu fahren. Dass es sich hier um einen der Moskauer Flughäfen handelte, war ihnen nicht bewusst. Als der Bus seine Fahrt wieder aufgenommen hatte, legten sie ihr Buch zur Seite und schliefen ein.

Eine Ahnung ließ mich wach bleiben, und die jeder Reiseleitung aufgetragene Verantwortung. Und tatsächlich, nach zwei weiteren Stunden machte der Bus einige lustige Hüpfer, dann stand er still! Irgendwie rief ich mir jetzt die Zeit in Erinnerung, zu der wir am Flughafen sein mussten. Und eine aufgeregte Stimme kam aus dem Dunkel, dass es jetzt aber Zeit sei, über eine Telefonzelle einen Ersatzbus zu ordern!! Und der Ehemann würde in Frankfurt am Flughafen stehen, und er hätte doch gleich nach Ankunft des Fliegers wichtige Termine, die sie mit ihm wahrnehmen solle. Da konnte ich dann nur behutsam fragen, ob irgendjemand im Bus hier schon einmal eine solche Einrichtung am Straßenrand gesehen hätte. Ach ja, und Handys gab es ja auch noch nicht! Wozu die Nervosität! Die drei Frauen sangen doch schon wieder, diesmal lauter, voller Hingabe, Psalmen seien es, sagten sie später. „Der Herr ist mein Hirte“, vielleicht war es das, vielleicht auch einer der zahlreichen anderen. Ruhe kehrte ein, wir lernten, geduldig zu werden.

Die Busfahrer eilten indessen hin und her und versorgten den Motor. Wir hatten an einem Fluss angehalten.  Einen Eimer Wasser nach dem anderen gossen die beiden über den überhitzen Motorblock. Es zischte und fauchte, und irgendwann trat eine Beruhigung ein. Eigentlich war ja jetzt alles wieder in Ordnung und die Weiterfahrt hätte beginnen können. Aber gerade in dieser Nacht bedurfte es eines Ankurbelers. Ja, der Bus war tatsächlich sehr eigen! Also drückten die Fahrer meinem Mann wieder einmal eine riesige Kurbel in die Hand. Die steckte er an der Rückseite des Busses in ein dafür vorgesehenes Loch und drehte sie Zug um Zug nach rechts. Irgendwann gab es aber kein Weiter mehr. Der Ankurbeler musste sich mit einem großen Rückwärtssprung in Sicherheit bringen, die Kurbel drehte sich rasend schnell nach links, und  –  der Motor sprang an!  Geschafft! Prachtkerle! Die Busgemeinschaft wuchs noch enger zusammen. Und mit den drei Beterinnen war alles irgendwie gar nicht mehr so aufregend.

Noch einmal in dieser Nacht musste der Bus anhalten. Aber das betraf uns dann nicht mehr, wir waren unter Gottes Schutz! Pünktlich um 10 Uhr am nächsten Morgen konnte uns der Bus am Abfluggebäude des Moskauer Flughafens absetzen. Herzliche Verabschiedung der drei Psalmen- Sängerinnen und der Fahrer, gute Wünsche für die lange Rückreise! Als der Bus aus der Kurzzeitparkzone hinausfuhr, verabschiedete er sich mit einem unschönen Geräusch, einem Sprung und dem absoluten Stillstand. Das Getriebe sei kaputt gewesen, erfuhren wir später. Fünf Tage verbrachten unsere Reisegefährten in Moskau, dann konnten sie mit dem reparierten Bus wieder nach Tambow fahren. Ja, Vater Nikolaj hatte uns drei Engel mit auf die Reise gegeben, aber das sollte uns erst viel später bewusst werden.

Ursula Küppers, Lich

25.07.22