Berührende Erlebnisberichte Holocaustüberlebender in der Ukraine:

Eigentlich hätte Wetzlars Oberbürgermeister Manfred Wagner die zentrale Veranstaltung der diesjährigen Ökumenischen FriedensDekade unter dem Motto „Umkehr zum Frieden“ am Dienstag in der Stadtbibliothek eröffnen sollen. Die Ausstellung „Wirksam ohne Waffen“ sollte bis zum 21. November dort zu sehen sein. Coronabedingt musste die Vernissage ausfallen und auch die Ausstellung selbst soll nun zu einem späteren Zeitpunkt gezeigt werden. Den Veranstaltern, zu denen neben dem Evangelischen Kirchenkreis an Lahn und Dill auch die Stadtbibliothek, die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar und „Mayors for Peace“ gehören, ist es jedoch gelungen, für die im Anschluss geplante Buchlesung „Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine“ eine Videokonferenz zu organisieren.

Die Moderation der Lesung des Kölner Ehepaares Margret und Werner Müller hatte Altsuperintendentin Ute Kannemann übernommen. Die Präsidentin der Internationalen Ökumenischen Gemeinschaft (IEF)- Deutsche Region betonte, es sei wichtig, diese Zeugnisse zu hören um den jüdischen Menschen damit ein Stück ihrer Würde zurückzugeben.

Vom Sterben und Überleben, den Qualen und Ängsten bei der Zwangsarbeit und auf der Flucht, von der brutalen Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten, auch durch Einheimische, hörten die 32 Teilnehmenden. Aber auch von der Fürsorge nicht-jüdischer Ukrainer unter Riskierung ihres eigenen Lebens und dem ihrer Familienangehörigen.

Josif Entin, 1925 geboren, berichtet, wie die jüdischen Menschen nackt in eine Schlucht getrieben und dort von einem deutschen Sonderkommando erschossen wurden. Als junge ukrainische Polizisten sich weigerten, zu schießen, mussten sie ihr eigenes Grab ausheben und wurden ebenfalls erschossen. Einer der Jungen habe vorher direkt in die Augen des deutschen Offiziers geblickt und gesagt: „Nein, ich kann es nicht, ich tue es nicht.“

Zu den erschütternden Berichten gehört auch die Geschichte von Galina Polinskaja, die sieben Jahre alt war als der Krieg begann. Ihre Mutter musste mitansehen, wie ihr eigener Vater von einem deutschen Hinrichtungskommando erschossen wurde. Der Mutter gelang es, mit Galina und ihrer Schwester in ein anderes Dorf zu fliehen, wo sie sich im Keller, auf dem Dachboden oder in Lauben versteckten. Das Mädchen hatte in der Folge vier Lungenentzündungen. „Das ganz Dorf wusste, dass wir Juden waren“, erzählt Galina Polinskaja, „aber keiner hat uns verraten.“

Margret Müller und Werner Müller haben seit mehr als 20 Jahren Kontakt zu Opfern des Nationalsozialismus in Osteuropa und gehören mit dem Historiker und Holocaustüberlebenden Boris Zabarko zu den Herausgebern des Werkes, das rund 200 Zeitzeugenberichte vereint. Die Erzählungen der Geretteten sind geografisch angeordnet in der Reihenfolge der Besetzung durch die Wehrmacht und werden durch Karten und Ortsbeschreibungen sowie Informationen zum Kontext ergänzt. Zwischen 1941 und 1944 wurden in der Ukraine rund 1,6 Millionen jüdische Menschen an mehr als 600 Orten der Vernichtung umgebracht. Dass die Berichte Überlebender erst spät, nämlich nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 erschienen, liegt daran, dass in der Sowjetunion über den Holocaust Stillschweigen herrschte.

Als „Akt des Widerstandes gegen heutige Neonazis und Holocaustleugner“ sehen Margret Müller und Werner Müller die Motivation Überlebender, das Andenken an das Vergangene zu bewahren und sind sich darin einig mit Boris Zabarko. Die Berichte könnten nur eine unvollkommene Erinnerung sein, denn Worte gebe es für das Grauen nicht, sind beide überzeugt. Der Aufklärung über die damaligen Ereignisse fühlen sie sich jedoch verpflichtet.

„‘Du sollst nicht töten‘ klingt in den zehn Geboten wie eine Mahnung, ist aber eine Entdeckung“, zitierte Ute Kannemann abschließend den Holocaustüberlebenden, Lyriker und Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec.

Begrüßt hatte die Anwesenden Pastor Ernst von der Recke, Vorsitzender des Arbeitskreises Frieden im Kirchenkreis an Lahn und Dill.

„Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse von Überlebenden“ ist 2019 im Metropol Verlag Berlin erschienen (ISBN 9783863314750), hat 1152 Seiten und kostet 49 Euro.

Die von Pfarrer Björn Heymer und Pfarrer Peter Hofacker am Sonntag im Dom im Rahmen der Ökumenischen FriedensDekade eröffnete Ausstellung „Wir scheuen keine Konflikte“ ist dort noch bis zum 20. November zu sehen.

bkl[vc_single_image image=”10951″ img_size=”full”]Pastor Ernst von der Recke, Vorsitzender des Arbeitskreises Frieden im Kirchenkreis an Lahn und Dill, begrüßte die Teilnehmenden der Videokonferenz zur Buchlesung über den Holocaust in der Ukraine.