Kein Public Viewing in evangelischen Kirchengemeinden:

„Wir haben im Sommer in Griedelbach 100 Jahre SV gefeiert. Das war großartig!“, erinnert sich Dr. Hartmut Sitzler. „Fußball in Griedelbach ist für mich Sport, die WM in Katar ist Business“, ergänzt der Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises an Lahn und Dill. Die Fußball-WM, die in diesem Jahr vom 20. November bis zum 18. Dezember im arabischen Katar ausgetragen wird, hat bereits im Vorfeld für viel Kritik gesorgt. Auch die evangelische Kirche bezieht Position.
Das Geld mache den Sport kaputt, sagt Sitzler. Seit Jahren veränderten sich Lebensbereiche wie Kunst, Musik und Bildung. Sobald sich die Logik von Investition und Rendite durchsetze, beginne ein Prozess der Aushöhlung und Zerstörung. Beim Fußball sei dies besonders deutlich, da es hier um sehr viel Geld gehe. „Aus den großen Fußballclubs sind Entertainmentunternehmen geworden, mit Sport hat das nur noch äußerlich etwas zu tun“, so der Theologe.

„Was dem Ganzen die Krone aufsetzt, ist, dass diese WM, die beim Bau der Stadien so viele Menschen das Leben gekostet hat, am Toten-, beziehungsweise Ewigkeitssonntag eröffnet wird“, erklärt Superintendent Sitzler.  „An diesem Tag gedenken wir in unseren Gottesdiensten der Gestorbenen.” Dies zu tun hat auch Pfarrer Hans-Jörg Ott für die Gottesdienste der Kirchengemeinden Waldsolms-Nord und Schöffengrund am Ewigkeitssonntag angekündigt: „Wir werden der Opfer von Menschenrechtsverletzungen und beim Bau der Stadien tödlich Verunglückten fürbittend gedenken. Ott kritisiert die Verletzung von Menschenrechten, die Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten, die Einschränkung der Meinungs- und Religionsfreiheit, die soziale Ungleichheit und die Auswirkungen auf das Klima in dem arabischen Staat. „Wenn die Werbeeinnahmen zurückgehen, weil die Menschen sich solche Spiele nicht ansehen wollen, wird in Zukunft vielleicht überlegt, wo derartige sportliche Großereignisse stattfinden“, so Ott. „Als Kirchengemeinde werden wir unsere Gottesdienste im Advent feiern und die Fußballweltmeisterschaft kritisch begleiten.“ Für das Presbyterium der Evangelischen Kirchengemeinde Dutenhofen/Münchholzhausen spricht Pfarrer Michael Philipp. Fußball sei erst einmal nur Fußball und damit eine der schönsten Nebensachen der Welt. „Leider trifft es auf die WM in Katar nur bedingt zu, weil das Gastgeberland nicht nur mit seinen homophoben Äußerungen das Spektakel in keinem guten Licht erscheinen lässt“, betont der Theologe.

Die Arbeitshilfe der rheinischen Kirche „Macht hoch die Tür, die Tooor macht weit“ unterstützt die Gemeinden in der Auseinandersetzung mit dem Thema. Hier sind auch liturgische Texte für die Gestaltung der Gottesdienste in der Adventszeit zu finden. Auch jüdische Autoren kommen zu Wort, denn das jüdische Chanukka (Lichterfest) fällt ebenfalls in die Zeit der Weltmeisterschaft.

Die EKD-Ratsvorsitzende Präses Annette Kurschus und der EKD-Sportbeauftragte Präses Thorsten Latzel haben darüber hinaus einen offenen Brief an DFB-Präsident Bernd Neuendorf geschrieben. Darin fordern sie Neuendorf auf, sich für die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten einzusetzen und Arbeitsmigranten in ihren Wohnquartieren zu besuchen.
Einen hilfreichen Impuls geben zudem die digital verfügbaren “Cards of Qatar”, Sammelkarten gestorbener Arbeitsmigranten im Rahmen der Fußball-WM (Initiative des Magazins für Fußballkultur 11Freunde und des schwedischen Magazins BLANKSPOT):

https://cardsofqatar.11freunde.de/

Viele Gemeinden im Kirchenkreis an Lahn und Dill haben im Rahmen der vergangenen Weltmeisterschaften Public Viewing in ihren Gemeindehäusern angeboten. Doch das ist diesmal anders. Eine Anfrage des Öffentlichkeitsreferates an die 43 Gemeinden wurde in keinem Fall positiv beantwortet. „Wir bieten zu dieser WM ausdrücklich kein Public Viewing an!“, erklärt Thomas Fricke, Gemeindepädagoge in Katzenfurt, Werdorf und Berghausen. „In einem Land, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, kann der mit dem Fuß getretene WM-Ball nichts Adäquates dagegensetzen.“ Und er ergänzt: „Wir solidarisieren uns mit den vielen Fanprotesten – und sehnen uns nach der EM 2024.“

Die Arbeitshilfe der rheinischen Kirche für Gemeinden ist hier zu finden:

Evangelische_Arbeitshilfe_WM-Katar_2022_WEB(5)

Der offene Brief an DFB-Präsident Bernd Neuendorf ist hier aufrufbar: offener-brief-DFB-Praesident-Neuendorf(1)

bkl