Diese Predigt zum Sonntag Miserikordias Domini hat Pfarrer Michael Lübeck, Schulreferent des Kirchenkreises an Lahn und Dill, geschrieben.
Liebe Gemeinde!
„Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten“, so sang es die Brüdergemeinde im 18. Jahrhundert in einer ganz einfachen und tief empfundenen Frömmigkeit. Ich freue mich, weil ich Jesu Schäflein bin.
Wenn wir das heute hören, ist das wohl nicht mehr das populäre Leitbild unserer Zeit. Wir sind gerne als mündige Menschen gefragt, als kritische Staatsbürger, als aufgeklärte Christen. Wir möchten es gewürdigt wissen, dass unser Selbstvertrauen im Laufe unserer Entwicklung gewachsen ist, dass wir die Zusammenhänge durchschauen und deshalb mitreden können. Wenigstens in geistiger Hinsicht möchten wir unabhängig sein. Da klingt das Bild von dem Hirten und den Schafen, so wie wir es im Johannesevangelium von Jesus hören, etwas fremd. Aber was haben wir uns unter dem Bild eines Hirten eigentlich vorzu-stellen? Hirte sein zur Zeit Jesu – das ist alles andere als eine Schäferidylle.
Zum Hirten gehört die Verantwortungsbereitschaft eines Regierenden, die heilende Kunst eines Arztes, die Fürsorge dessen, der auch das schwächste Glied seiner Herde nicht preis-gibt; der jede und jeden sucht und wenn es sein muss, auch trägt. Es gehört die Stärke dazu, Überfälle abzuwehren und seine Herde zur Not im Kampf auf Leben und Tod zu schützen. Es gehört der Spürsinn dazu, Wasser und Nahrung zu finden. Wenn die Schafe bei ihrem Hirten bleiben, garantiert ihnen das Leben und Geborgenheit.
Und wer eine Schafherde beobachtet, die unterwegs ist, bemerkt, dass der Hirte die Herde nicht antreibt; sondern er geht ihnen voraus und sie folgen ihm nach. Jesus hat sich selbst mit einem Hirten verglichen. Er kennt die, die ihm anvertraut sind. Und seine Gemeinde kann sich ihm anvertrauen, kann sich darauf verlassen, dass er sie nicht in die Irre führt. Das Bild vom guten Hirten macht uns deutlich:
Du bist kein Schaf aus einer verängstigten Herde, getrieben, gejagt und verlockt von immer neuen Funktionären, denen es nur um ihren Profit geht. Du bist nicht zufälligen Machtver-hältnissen und Interessen ausgeliefert.
So mancher hat sich schon gerne als „Hirte“ ausgegeben. Und was ist dann allzu oft daraus geworden? Jesus weist schon darauf hin: Sie opfern sich nicht auf, sondern sie nehmen, was sie kriegen können. Sie machen sich die Sehnsüchte der Menschen zu Nutze, kennen deren Manipulierbarkeit und Verfügbarkeit und setzen das für ihre eigenen Ziele ein.
Jesus Christus ist der gute Hirte, der diejenigen, die ihm anbefohlen sind, weder täuscht noch enttäuscht. Er ist derjenige, der seine Gemeinde am Leben hält und bewahrt. Er stellt sich schützend vor uns und warnt vor dem eigenmächtigen Griff aller möglicher Gewalten oder Ressource und schätzt sie nicht nach ihrem Leistungswert ein. Und nur so kann er wirk-lich helfen. Denn er kommt aus einer Welt, in der ganz andere Maßstäbe und Wertvor-stellungen gelten als in unserer Gesellschaft.
Im Bild gesprochen: sie liegen dicht beieinander, der Raum in dem wir leben und der Raum der Liebe Gottes. Und doch scheinen manchmal Welten dazwischen zu liegen. Aber es gibt eine Tür, die beide Räume miteinander verbindet, und sie trägt den Namen Jesus Christus.
Nun ist er aber nicht nur die Tür, er ist auch Stimme. Von dieser Stimme ist im Text mehrfach die Rede. Das bedeutet, dass wir nicht allein sind unter einem schweigenden Himmel, wie uns das in manchen Situationen vielleicht scheinen mag. Wir sind als Menschen nicht allein gelassen und nur auf uns selbst angewiesen. Jesus kommt zu uns als die Stimme Gottes.
Die Stimme Gottes, die zu uns spricht als Wort der Hilfe, die uns aus der Angst befreit; als das Wort der Freude, die unsere verstimmte Lebensmelodie wieder zum Klingen bringt; als das Wort des Friedens, das unsere Gedanken und Entscheidungen zum Guten verändert; als das Wort des Trostes für alle, über denen die Traurigkeit wie eine dunkle Wolke hängt; als das Wort des Segens, wenn wir mit ihm zusammen unterwegs sind.
„Meine Schafe hören meine Stimme“, sagt Jesus, „ich kenne sie.“ Wenn Jesus hier von „kennen“ spricht, dann sagt er das nicht mit dem Unterton: „Ich kenne die Leute, da braucht mir keiner was zu erzählen.“ Nein, sondern so: „Eben weil ich sie kenne, darum halte ich es bei ihnen aus.“ Wir dürfen uns erkannt und gleichzeitig anerkannt wissen. Auf diese Weise sind wir einbezogen in eine neue Gemeinschaft. Denn Jesus kennt uns bis auf den Grund unserer Seele, besser als wir selbst uns verstehen. Und wie könnten wir uns selber anders finden und erkennen, als in einem Gegenüber, das uns auf diese Weise anspricht und ernst nimmt?
Dietrich Bonhoeffer fragt in einem Gedicht: Wer bin ich? Bin ich so stark, wie andere mich sehen, oder so verzagt, wie ich mich selbst erlebe? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Und er kommt zu dem Schluss: „Wer ich auch bin, du kennst mich. Dein bin ich, o Gott.“
Von einem Punkt spricht Jesus hier nicht bei dem Bild von der Herde und dem Hirten: Nir-gendwo ist die Rede von „schwarzen Schafen“. Solche Einteilungen, wie wir sie manchmal gerne vornehmen, bringt Jesus hier nicht ein. Denn hier sind alle in gleichem Maß abhängig und schutzbedürftig. Jede und jeder verirrt sich da und dort einmal, muss gesucht und wieder zurückgebracht, aufgehoben und gestützt werden. Niemand hat da anderen etwas voraus.
Durch die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, kann etwas durchscheinen von dem, was Jesus Christus für uns alle ist. Indem wir, die wir selber zur Herde gehören, für-einander Verantwortung tragen. Nicht im Sinne von Überwachung und Besserwisserei, son-dern so, dass wir von dem, was wir selbst an Wegweisung, Begleitung und Geborgenheit er-fahren haben, an andere weitergeben.
So können auch diejenigen etwas von dem guten Hirten erfahren, die seine Stimme noch nicht oder zur Zeit nicht in aller Deutlichkeit vernehmen. Und die deshalb noch oder zur Zeit gerade auf der Suche sind: Nach der Tür, die nicht ins Leere führt. Nach dem Hirten, der nicht in die Irre gehen lässt. Sondern der den Zugang zum Leben bringt.
Amen