Die Predigt zu Karfreitag stammt von Jörg Süß, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Wetzlar, Bezirk Kreuzkirche
und stellvertretender leitender Pfarrer des Evangelischen Kirchenkreises an Lahn und Dill.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.
Amen.
Die Bilder von überfüllten Krankenhäusern und Leichenhallen aus Spanien, Italien oder den USA legen sich über das milde Licht der Frühlingstage. Täglich warten wir auf die neuesten Corona-Zahlen und ihre Folgen. Und diese Zahlen und ihre Konsequenzen ziehen uns runter, ziehen unsere Blicke an und bestimmen unsere Gedanken. Es scheint, als habe das zunehmende Licht dieser Zeit keine Chance gegen das, was düster ist und alles grau einfärbt.
Wie kein anderer Tag im Jahr passt dazu der Karfreitag, der schwarze Freitag. Und wie in keinem anderen Jahr seit dem Ende des 2. Weltkrieges passt die Botschaft dieses Tages besser zu dem, was wir erleben. Denn in der Welt geht es derzeit um Leid und Tod und in den Bibeltexten für heute geht es um Leid und Tod.
Die Texte erzählen davon, wie Jesus leidet und stirbt, wie schwere Hammerschläge ihn an den Schandpfahl heften, wie seine Freunde sich verstecken, statt in seinen schwersten Stunden bei ihm zu sein. Sie erzählen von seiner Todesqual und davon, wie die Frauen, die sonst auch für ihn da waren, hilflos dabei zusehen müssen. Und sie erzählen davon, wie ohnmächtig Jesus gegenüber dem ist, was da über ihn hereinbricht.
In diesem Jahr sind mir die Texte sehr nah. Und ich merke, dass sie mich anders anrühren, als sonst. Ich bin näher an sie herangerückt und merke, dass genau das notwendig ist, um ihnen nicht nur mit dem Verstand zu begegnen. Wenn ich nah an das Kreuz heranrücke, so nah heran, dass es schon fast weh tut, Jesus leiden und sterben zu sehen, merke ich auch, dass in dieser finsteren und ausweglosen Situation Licht schimmert.
Der Text:
„Und zur sechsten Stunde kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli lama asabtani? Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Und einige, die dabeistanden, als sie das hörten, sprachen sie: Siehe, er ruft den Elia. Da lief einer und füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr, gab ihm zu trinken und sprach: Halt, lasst sehen, ob Elia komme und ihn herabnehme! Aber Jesus schrie laut und verschied. Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Der Hauptmann aber, der dabeistand, ihm gegenüber, und sah, dass er so verschied, sprach: Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“
Finsternis fällt auf diesen verhängnisvollen Freitag, an dem die Henker und ihre feinen Auftraggeber denken, dass sie mit dem unbequemen Mann aus Nazareth endgültig fertig sind. “Kreuzige ihn!“ hatten die Leute gerufen und Jesus damit abgeurteilt. Und ihr Urteil wird sofort in die finstere Tat umgesetzt.
Wieder einmal haben sich die mörderischen Mächte der Zerstörung und ihre zwielichtigen Handlanger zusammengerauft, verschworen zu einer Kumpanei des Bösen – gegen das Leben, gegen das Gute, gegen die Wahrheit, gegen einen Schuldlosen, der von sich sagt: „Ich bin das Licht.“ Ein wahrhaft schwarzer Freitag. Schamhaft verbirgt sich die Sonne hinter den Wolken, so als könne sie das gewaltige Unrecht, das hier frech und frevelnd geschieht, nicht ertragen: „Und es kam eine Finsternis über das ganze Land.“
Finster der Himmel, unter dessen augenscheinlicher Erlaubnis der Tod Triumphe feiert. Finster die Stunde, in der sich nun die nackte Niedertracht breitmacht. Finster die Herzen derer, die tatkräftig oder tatenlos zu ausführenden Organen werden. Die jenen Gerechten unter die Übeltäter werfen, ihn seiner Kleider und seiner Würde berauben, ihn foltern, kaltblütig meucheln oder auch nur vermeintlich unbeteiligt gaffen und damit zu Zeugen werden. Finster die Herzen derer, die so lange an seiner Seite waren und sich nun kläglich in irgendeinen Winkel verkrochen haben.
Tiefe Finsternis schließlich um Jesus selbst. Von seinen Freunden im Stich gelassen, von seinen Feinden zur Strecke gebracht, ja, selbst von Gott verlassen, wie es scheint. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ An seinem Auftrag ist er gescheitert. Sein Werk versinkt in einem schwarzen Nichts. Finstere Sinnlosigkeit gibt ihm das letzte Geleit. „Und um die sechste Stunde kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.“
Die Leute, die von fern dem Schauspiel gefolgt sind, haben das, was da passiert ist am Rand der Welt, bald vergessen. Für sie versinkt es bald wieder im Dunkeln.
Nur in der Nähe schimmert etwas Licht, seltsames, merkwürdiges Licht. Die Eile, die sie bei der Hinrichtung hatten, deutet darauf hin, dass die beteiligten Parteien unsicher sind. Am Ende will der römische Statthalter mit dieser jüdischen Angelegenheit nichts mehr zu tun haben und wäscht demonstrativ und vergeblich seine Hände in Unschuld.
Ein Soldat wird nachdenklich bei dem, was er da getan hat, und spricht, leider etwas zu spät, sein Urteil. Und der sterbende Jesus selbst ruft immer noch nach seinem Gott.
Seltsam flackerndes, irritierendes Licht mitten im Dunkeln.
Bald darauf fangen die Leute an zu fragen: Was war denn da los? Was ist da passiert? Und so fragen viele bis heute. Da schimmerte Licht durch in der Finsternis. Schimmert es auch heute noch? Und wie dicht muss ich ran an die Geschichte, und wie nah muss mir Leid und Tod kommen, damit ich es wahrnehmen kann?
Manche sagen, dass die Kreuzigungsfinsternis bis heute anhält. Dass sie nicht nur an jenem Tag damals die beteiligten Menschen im Herzen erfasst habe, sondern bis heute unsere ganze Welt verfinstert. Nicht nur wegen der Corona-Pandemie, sondern wegen der Zerstörung der Schöpfung, wegen der Niedertracht der Menschen, wegen der Kriegstreiberei und der Verweigerung von Hilfe. Auch heute wird willentlich und feige weggesehen. All das scheint seit damals die Oberhand behalten zu haben. Das Dunkel scheint über das Licht zu triumphieren. Die gottwidrigen Mächte stimmen ihr Siegesgejohle an.
Der Schrei jenes Einsamen am Kreuz ist längst zur schier unendlichfachen stummen Klage der ganzen Schöpfung geworden: in Unrechtsprozessen und Folterkammern, auf Schlachtfeldern und in Vernichtungslagern, in Elendsvierteln und Dürrezonen, in heillos überfüllten Krankenhäusern – überall da ist der Schrei laut zu hören: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Jesus scheint mit seiner bitteren Anklage die ganze augenscheinliche Gottverlassenheit unserer immer finsterer werdenden Welt in einer düsteren Prophezeiung vorweggenommen zu haben.
So wäre es, wenn nicht in seinem Verzweiflungsschrei noch etwas Anderes laut würde: „Warum hast du mich verlassen – mein Gott?“ Der Einsame dort am Kreuz fühlt sich von Gott im Stich gelassen, allein mit seiner Angst vor dem Tod, und wirft sich doch in seiner Not Gott selbst vor die Füße: „Mein Gott!“ „Mein Gott!“ Diese zwei kleinen Worte, wie oft von uns gedankenlos dahergeredet, werden dem einsam sterbenden Jesus zum letzten Ausweg. Um ihn und in ihm ist es finster, er fühlt sich von allen verlassen, selbst von Gott. Aber er weiß immer noch, wem er seinen Verzweiflungsschrei entgegenschreien kann: „Mein Gott!“
„Mein Gott!“ – in diesem einen letzten Schrei vollzieht sich die dramatische Wende von Karfreitag. In diesem einen letzten Schrei bekommt die Gottesfinsternis einen ersten hellen Riss. Und damit unsere ganze dunkle, waidwunde Welt, die scheinbar auch von Gott verlassen wurde.
Mit einem einzigen Schrei wird unsere ganze gefangene Welt aufgerissen und zu Gott hin offen gemacht. „Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus.“ Mit einem einzigen Schrei zerreißt der Vorhang zwischen einer augenscheinlich gottlosen Welt und Gott. Alle Schreie, alle Klagen, alle Seufzer, alle Hilferufe verhallen nicht mehr im Nichts, sondern haben einen Adressaten: Gott.
Diejenigen, die alles nur noch als finster wahrnehmen, sind dadurch in ihrer Finsternis nicht mehr allein. Der Vorhang ist zerrissen. Die Wolkendecke hat ein Loch bekommen. Gott lässt sich wenigsten anflehen, bitten, und wenn es sein muss auch anschreien, beschimpfen und anklagen: „Warum hast du mich verlassen – mein Gott?“
An dieser Frage entscheidet sich alles. Wird eine augenscheinlich von Gott verlassene Welt, werden wir – wie der einsame Jesus am Kreuz- in unserer Not die Hände wirklich nach Gott ausstrecken, dem einzigen Trost im Leben und im Sterben, oder werden wir doch alsbald wieder zu allerlei Trösterchen oder Betäuberchen greifen? Werden wir an den vielen schwarzen Himmeln über uns den einen kleinen blauen Fetzen wahrnehmen, den der Gekreuzigte für uns aufgerissen hat? Oder werden wir uns abfinden mit den beängstigenden Läufen der Dinge, mit schreiendem Unrecht oder dem Triumphzug der Todesmächte? Die alles entscheidende Frage wird von Jesus für uns beantwortet.
„Der Hauptmann aber, der dabeistand, ihm gegenüber, und sah, dass er so verschied, sprach: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ Er selber, noch ganz Handlanger des Todes, selber noch Vertreter der Finsternis, nimmt als erster schon da diesen hellen Riss wahr. Er hat schon, wenigstens von ferne, dieses unscheinbare Licht gesehen, das durch die Wolken gebrochen ist. „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ Inmitten einer dunklen, gottwidrigen Welt und selbst Teil davon, wird er zu einem ersten zaghaften Zeugen einer anderen, für Gott offenen Welt. Da, wo nichts auf Gott hindeutet, nimmt er ihn wahr.
Wenn es doch mehr solcher Hauptleute gäbe! Handlanger und Gefangene einer dunklen Welt, gewiss. Und schrecklich und jämmerlich genug, dass es so ist. Noch. Aber dennoch solche, die schon jetzt einen Fetzen Blau wahrnehmen, schon jetzt für die Wahrheit eintreten, schon jetzt erkennen, dass der Tod nicht der Alleinherrscher in dieser Welt ist.
Noch ist alles verhangen und grau. Aber es gibt sie tatsächlich auch heute, jene Hauptleute. Vielleicht nur hier und da, aber es gibt sie. Auch unter uns.
Sie nehmen Gott wahr, wo nichts auf ihn hindeutet, im verzweifelten Kampf für das Leben von Coronapatienten rund um die Welt, in den unmenschlichen Flüchtlingslagern, unter denen, um die sich keiner mehr schert, weil der Blick der Weltöffentlichkeit auf ein einziges Thema gelenkt wird. Sie widersprechen der Finsternis und sehen jenes merkwürdige, irritierende Licht. Und kein noch so schwarzer Freitag kann sie einschüchtern.
Amen