Wetzlarer Gespräch mit Dr. Andreas Goetze:
Für einen Mentalitätswandel in der Begegnung der Religionen untereinander hat Dr. Andreas Goetze vom Berliner Missionswerk, das sich für Frieden und Gerechtigkeit, Überwindung von Gewalt und Bewahrung der Schöpfung einsetzt, im evangelischen Gemeindehaus in Hermannstein plädiert.
„Toleranz statt Wahrheit?“ lautete provozierend der Titel des „Wetzlarer Gespräches“, mit dem der Landespfarrer für den interreligiösen Dialog in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) die mehr als 70 Anwesenden mit auf eine Gratwanderung zwischen Absolutheitsanspruch und Beliebigkeitsdenken nahm.
Um eine Begegnung mit Achtung, um die Wichtigkeit der Bildung und um die Frage, wie heilige Texte lebendig werden können, ging es beim Vortrag und der darauf folgenden angeregten Diskussion.
So stellte der 54-jährige Theologe einer Erlaubniskonzeption von Toleranz eine Konzeption des Respektes gegenüber. Tolerierte Wertvorstellungen einer Minderheit, die die Autorität der Vorherrschaft nicht in Frage stellen dürften, führten oft zu einem Rechtfertigungsdruck unter den Betroffenen und zu Wut und Hass der Minderheit, erläuterte er. Eine Respekt-Toleranz bedeute demgegenüber, die Vieldeutigkeit anzuerkennen, den anderen, der anders glaubt und lebt in der Verantwortung vor Gott und den Menschen zu achten.
Im Hintergrund steht ein biblischer Wahrheitsbegriff, den der Landespfarrer mit „Treue“ und „Verlässlichkeit“ übersetzt, nicht mit „Widerspruchsfreiheit“. Denn er möchte nicht einem christlichen Überlegenheitsdenken und Exklusivitätsbewusstsein, das andere ausschließt, das Wort reden.
Die heiligen Schriften müssten rezitiert werden, so Goetze. „Sie sind als Hörbuch zu verstehen, vergleichbar mit einer Musikpartitur, die nicht von sich aus klingt. Ein Klangraum im Herzen kann entstehen, wenn ich die Psalmen bete und mich auf diese Weise anrühren lasse bis in die Tiefe meiner Seele.“ Dadurch könne es zur Änderung der inneren Haltung und zum Dialog mit anderen kommen. Denn in den biblischen Texten ginge es nicht um absolut zu setzende Wahrheiten, sondern um einen Weg Gottes mit den Menschen, der bei Abraham beginnt und bis zur Aufforderung der Nachfolge Jesu Christi reicht. So stehe hier nicht die Mitteilung einer Information im Mittelpunkt, sondern die lebendige Beziehung zwischen Gott und den Menschen und den Menschen untereinander.
Im Dialog mit anderen Religionen sei daher die Demut eine angemessene Haltung, verbunden mit der Bereitschaft, vom anderen zu lernen. Es gehe nicht darum, wer Recht hat, sondern um die Frage: Wer gewährt mir Recht, wer gibt mir Lebensraum? Dazu gehöre es, den eigenen Überzeugungen treu zu bleiben: „Nichts ist für mich schöner als Christ zu sein und von dem zu erzählen, was mich trägt und mir Hoffnung gibt.“
Dazu sei auch religiöse Bildung unabdingbar: „Die Unbildung ist eklatant hoch“, bedauerte Goetze den Wissenstand in allen Religionen insbesondere bei Jugendlichen. In einer globalisierten Welt bräuchte es interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen um sprachfähig zu sein. Sonst käme es leichter zu Fundamentalismus und zur Tendenz in unsicheren Zeiten, Orientierung beispielsweise im Rechtsradikalismus oder bei den Salafisten zu suchen.
Und Goetze kann auch Grenzen setzen: In Schulen zum Mittagessen kein Schweinefleisch mehr anzubieten, sei keine Lösung, erklärte er. Und auch dem Abhängen von Kreuzen kann er nichts Positives abgewinnen, machte der Theologe auf falsch verstandene Toleranz aufmerksam. Wichtig sei jedoch gegenseitige Gastfreundschaft, sich in Moscheen, Synagogen und Kirchen und auch persönlich zu besuchen um miteinander ins Gespräch zu kommen.
Begrüßt hatte die Anwesenden Pfarrer Wolfgang Grieb, evangelischer Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar, die neben dem Sozialethischen Ausschuss der Evangelischen Kirchenkreise Braunfels und Wetzlar und weiteren Arbeitskreisen zu den Veranstaltern zählte.
Dr. Andreas Goetze hat Evangelische Theologie mit den Nebenfächern Judaistik und Philosophie studiert. Darüber hinaus absolvierte er islamwissenschaftliche Studien und Studien zum orientalischen Christentum in Jerusalem und Beirut. Seine Veröffentlichungen zeigen Verbindungen zwischen der historisch-kritischen Perspektive und der spirituellen Sichtweise des Glaubens auf. Mehr als 16 Jahre war er als Gemeindepfarrer tätig.
Weitere Informationen gibt es unter www.interreligioes-bmw.ekbo.de.
Literaturtipp: Andreas Goetze, „Religion fällt nicht vom Himmel. Die ersten Jahrhunderte des Islams“, WBG Darmstadt 2018, 59,90 Euro.
bkl
Bild 1: Landespfarrer der EKBO für den interreligiösen Dialog, Dr. Andreas Goetze referierte beim „Wetzlarer Gespräch“ zum Thema „Toleranz statt Wahrheit?“
Bild 2: Im Gespräch miteinander (v.l.): Pfarrer Wolfgang Grieb, Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar, Pfarrer Dr. Andreas Goetze und Pfarrer Stephan Hünninger, Sozialethischer Ausschuss der Kirchenkreise Braunfels und Wetzlar.