Erinnerung an die Pogromnacht vor 85 Jahren an der ehemaligen Synagoge in Wetzlar:

„Der 9. November wird künftig auch mit dem Erinnern des 7. Oktober und seinen Folgen verbunden sein.“ Das hat Wolfgang Grieb beim Gedenken an die Pogromnacht vor 85 Jahren in der Wetzlarer Pfannenstielsgasse am Standort der ehemaligen Synagoge gesagt.  Als Vertreter der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar (GCJZ) hatte der Hermannsteiner Pfarrer seinen Redebeitrag unter das Leitwort „Gedenken, trauern und Mut fassen in Zeiten von wachsendem Antisemitismus und Israelfeindschaft“ gestellt.

Nach dem grausamen Angriff der Hamas führe Israel zur Wiederherstellung seiner Sicherheit einen ihm aufgezwungenen Krieg, der die Menschen spalte, führte Grieb aus. Der politische Antisemitismus grassiere und bedrohe die Juden weltweit. Doch dürfe die Sprache der Waffen und der Gewalt nicht das letzte Wort haben. „Für den Frieden braucht es zuallererst den Willen der politisch Verantwortlichen auf beiden Seiten, die in einem langen Prozess die Mehrheiten ihres Volkes hinter sich gewinnen.“ Auch von vielen Hoffnungslichtern, von Leuchttürmen des Miteinanders und von Brückenbauern, „die trotz bitterer Erfahrungen an Begegnung und Verständigung festhalten“ und das Recht für alle im Blick behielten, sprach der Theologe. Dazu führte er den Bibeltext Jesaja 32,17 an: „Das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Friede für immer.“ Er wünsche allen in dieser schweren Zeit die sanftmütige Menschenfreundlichkeit des Juden Jesus, schloss Grieb, „damit Friede gewonnen und neu geschaffen werden kann, und damit alle wieder sicher und miteinander leben können.“

Staatssekretär Uwe Becker, Beauftragter der Landesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, erklärte in seiner Ansprache, der 9. November 1938 habe den Übergang von der Entrechtung jüdischen Lebens zum organisierten Massenmord markiert. Der Nationalsozialismus sei aus der Gesellschaft heraus entstanden: „Es waren Deutsche, die an Deutschen schuldig geworden sind.“ Wer sich damals für seine jüdischen Nachbarn eingesetzt habe, sei mutig gewesen. „Wenn wir heute Judenhass erleben, muss man nicht mutig sein, man muss nur Mensch sein, um dagegen aufzustehen“, so Becker. Europa habe noch nicht wirklich begriffen, was am 7. Oktober geschehen sei, mahnte er zudem. Der Terror der Hamas dürfe nicht gefeiert und gerechtfertigt werden. Die Stimmen der Solidarität aus der Gesellschaft seien zu wenige. „‘Nie wieder‘ ist jetzt!“ bekräftigte der Staatssekretär.

Einen Redebeitrag bei der Gedenkfeier, in deren Rahmen Stadt und GCJZ einen Kranz vor der ehemaligen Synagoge niederlegten, hielt auch Philipp Wilhelm Kranemann von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Gießen. Lawrence de Donges-Amiss-Amiss von der Jüdischen Gemeinde Gießen stellte den Vorbeter Jonathan Ascher vor, der ein Trauergebet rezitierte (El male rachamim – „Gott voller Erbarmen“).

Der katholische Diakon Norbert Hark las Psalm 22. Elisabeth Hausen sang unter Klarinettenbegleitung von Amely Stief „Kol Ha‘Olam Kulo“ (Die ganze Welt ist eine schmale Brücke, und die Hauptsache ist, sich nicht zu fürchten) von Rabbi Nachman von Brazlaw sowie den aaronitischen Segen aus 4. Mose, 6,24-26. Begonnen hatte die Erinnerung an die Pogromnacht mit einem Klarinettensolo zu Psalm 22, Vers 2: „Eli Lama Azavtani“ – „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“.

Für den Kreissynodalvorstand (KSV) nahm Pfarrerin Johanna Mähling an der Gedenkveranstaltung teil. Der Wetzlarer Pfarrer Björn Heymer war mit seiner Konfirmandengruppe zum Gedenken gekommen.

Begrüßt hatte die Anwesenden Oberbürgermeister Manfred Wagner, der die Veranstaltung auch moderierte. „Wir müssen erleben, dass das Wort von Fritz Bauer ‚Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden‘, äußerst aktuell ist“, sagte er. Die Pflicht als Demokraten sei es, deutlich Flagge zu zeigen. „Wir gehen mit dem Gedanken der Solidarität mit den Menschen in Israel auseinander“, so Wagner am Ende der Gedenkfeier. „Der Tau des Judenhasses darf sich nicht wieder über unser Land legen.“

bkl

 

Bild 1: Pfarrer Wolfgang Grieb nahm in seiner Ansprache an der ehemaligen Synagoge in Wetzlar am 9. November Gedenken und Hoffnungsperspektiven in den Blick.

Bild 2: „‘Nie wieder‘ ist jetzt!“, so Staatssekretär Uwe Becker in seiner Ansprache.

Bild 3: Elisabeth Hausen (v.l.) und Amely Stief begleiteten die Gedenkfeier musikalisch mit Gesang und Klarinette.