Klinikseelsorger ziehen Bilanz ihres langjährigen Dienstes

WETZLAR. Es ist eine Zäsur in der Seelsorge am Klinikum Wetzlar. Innerhalb weniger Wochen nehmen die beiden langjährigen Mitarbeiter der katholischen und der evangelischen Kirche ihren Hut, um sich in den verdienten Ruhestand zu verabschieden. Peter Hermann war 32 Jahre lang als katholischer Klinikseelsorger für die Patienten da, Pfarrer Hans-Dieter Dörr elf Jahre als evangelischer Ansprechpartner. Über ihre Erfahrungen haben sie uns Rede und Antwort gestanden.

Herr Hermann, was nehmen Sie als stärksten Eindruck mit aus dem Alltag als Klinikseelsorger?

Hermann: Im Krankenhausalltag mit dabei sein und dadurch „Reich Gottes“ lebbar zu machen. Mit und ohne die Vokabel Gott. Das betrifft die Patienten, die Mitarbeitenden und die Angehörigen. Dort trostreich und lebensförderlich wirken zu dürfen.

Herr Dörr, welche Ereignisse haben sie in diesen Jahren am Nachhaltigsten geprägt?

Dörr: Sicherlich waren die letzten drei Jahre sehr prägend, weil sie auch für uns als Seelsorger eine besondere Herausforderung mitgebracht haben. In der Zeit, als wir beide entsprechend geimpft waren, auch Patienten besucht haben, die mit Covid infiziert waren. Das hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen, weil ich da eine Dimension von Krankheit erlebt habe, die ich vorher so nicht kannte. Das Virus mit seinen Auswirkungen war schon heftig im Klinikum. Für mich als Seelsorger war die Anfangszeit problematisch,als gesagt werden musste: Wenn diese Menschen sterben, dann können keine Angehörigen dabei sein. Und selbst auch ein Jahr lang keine Besuche zu machen aus Eigenschutz. Das steht im Rückblick so ganz oben, weil es die letzten drei Jahre geprägt hat und auch jetzt noch in den Dienst wirkt. Denn es gibt immer noch eine Abteilung, in der Infizierte liegen und dort auch Besuche anbieten.

Seelsorge im Krankenhaus geschieht oft in einer unsicheren Situation. Wie müssen wir uns das vorstellen? Sind die Patienten im Krankenbett zugänglicher?

Hermann: Ein Großteil der Menschen war froh, in mir einen Menschen zu treffen, wo man mehr als nur die Krankheit bespricht. Die Pflege pflegt und hat im Zweifel zu wenig Zeit. Wir haben Zeit und sind nicht vorbelastet. Wenn jemand ein Gebet sprechen will, dann bete ich mit ihm. Wenn er ein geistliches Gespräch führen will, mache ich das. Aber es darf auch der Frust über ein verlorenes Fußballspiel sein. Das ist auch nicht schlimm. Und wenn das gut tut, dann ist das lebensfördernd in dem Moment.

Dörr: Ich habe es in der Regel so erlebt, dass die betroffenen Patienten und Patientinnen das Angebot der Seelsorge gerne in Anspruch genommen haben. Ich habe selten Ablehnung erlebt. Gute Gespräche gab es mit Menschen, die sagten, die seien konfessionell oder kirchlich überhaupt nicht mehr gebunden. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass bei den Begegnungen für uns dieser Mensch im Mittelpunkt steht. Er bestimmt die Themen, über die wir reden und manchmal auch schweigen. Er stellt die Fragen, auf der er oder sie keine Antwort haben. Es ist dann auch sehr unterschiedlich, wie stark dies geistlich vertieft wird durch Gebet oder Seelsorge.

Wie war ihre Arbeit organisiert? Wurden Sie mehr von den Patienten gerufen oder sind Sie selbstständig zu neu eingelieferten Patienten gegangen?

Dörr: Die Mehrzahl in meiner Arbeit ist, dass ich auf die Menschen zu gehe, denn wir haben die Aufgaben untereinander aufgeteilt nach Vordergund- und Hintergrunddienst. Es gibt Patienten, die über die Pflege Bescheid geben. Es ist aber auch vorgekommen, dass die Pflege oder die Ärzte angerufen haben und den Hinweis gaben, dass es gut wäre, wenn bei diesem Patienten ein Seelsorger vorbei käme. Und das hat es auch gegeben, dass die Menschen selbst anrufen und um einen Besuch bitten. Ich mache mir jeden Morgen einen Laufzettel, denn bei der Anmeldung können die Patienten angeben, ob sie Seelsorge wünschen.

Im Klinikum werden auch Menschen medizinisch versorgt, die anderen Religionen angehören haben. Sind Sie auch mit solchen Patienten ins Gespräch gekommen?

Hermann: Im Raum der Stille im Erdgeschoss des Klinikums kann jeder hinein und die Stille suchen. Auf dem Alter liegt ein Kompass, so dass Muslime, die nicht die Geografie nicht so genau kennen, wissen, wo Mekka liegt. Es liegen im Schrank Teppiche und Gebetsketten. Darin sind wir uns einig, dass der interreligiöse Raum für alle Menschen offen ist und zur Stille genutzt werden kann. Wenn die Corona-Lockerungen lebbar werden, können dann wieder Gottesdienste stattfinden.

Im Klinikum gibt es jeden Sonntag einen Gottesdienst im ökumenischen Wechsel.

Dörr: Ja, derzeit eben nicht. In der Pandemie war das im Grunde nicht zu organisieren, weil das ein wirklich kleiner Raum ist. Die Menschen, die zum Gottesdienst gekommen sind, war vor allem Personen aus dem Einzugsbereich des Klinikums. Es waren alte Menschen, die während der Pandemie eine Zeit lang die Schwelle des Klinikums gar nicht überschreiten durften oder auch nicht konnten. Wir gehen davon aus, dass die Gottesdienste durch unsere Nachfolger wieder angefangen werden. Die Räumlichkeiten haben es in der Zeit der Pandemie nicht hergegeben. Das ist schade. Zurzeit stellen wir wöchentlich eine neue Videoandacht ins Netz, die hausintern über den Klinikkanal im Fernseher empfangen werden kann.

Hermann: Auch den Patienten war nahegelegt, Kontakte zu vermeiden. Sollten nur mit Maske unterwegs sein. Selbst wenn keine Pandemie ist, sind die stationären Patienten, die nicht entlassungsfähig sind, die sind meistens auch nicht gottesdienstfähig. Die Beatmeten, die Zedierten sowieso nicht, die ans Bett gefesselten. Patienten mit Infusionen scheuen sich. Dann bleiben wirklich so gut wie keine Menschen mehr übrig, die am Gottesdienst teilnehmen können. Aber das Videoangebot sowie die Liveübertragungen vor der Pandemie waren schon gern genutzte Gelegenheiten.

Kommen Sie im Klinikalltag auch mit Angehörigen in Kontakt?

Ja, durchaus. Wenn ich zurückblicke, dann hat es immer wieder auch intensive Gespräche mit Angehörigen gegeben, die gerne ein Gespräch gewünscht haben im Hinblick auf die Situation ihre betroffenen Angehörigen. Manchmal sind wir dann in gewisser Weise Berater, weil es auch darum geht, neben dem Case-Management der Klinik, aufzuzeigen wo sie sich hinwenden können, sei es von kirchlicher Seite Caritas oder die Diakonie – und manchmal dann auch Kontakte zu vermitteln.

Hermann: Oder die Krankheit des Angehörigen ist eine Anfechtung an meine eigene Biografie. Wie kann ich weitermachen, wenn der Ernährer der Familie wahrscheinlich Frührentner wird. Da ergeben sich manchmal soziale, aber auch religiöse Fragen.

Dörr: Es ist ja so, dass das familiäre System davon betroffen ist und manches dann in Frage steht.

Hermann: In der Anfangszeit war es vier, fünf Mal in einer unangenehmen Weise. Da bin ich angerufen worden, manchmal über das Sekretariat eines Pfarramtes, mit der Aufforderung: Gehen Sie mal zu XY und reden sie ihm Mal ins Gewissen. Oder ich bekam den Hinweis, dass der Patient sich über einen Besuch freue. Ich komme ins Krankenzimmer und der Patient sagt „Wie bitte, ich habe Sie nicht bestellt“.

Dörr: Das kenne ich auch. Das reichte so weit, dass Angehörige den Wunsch hatten, dass der Seelsorger den Patienten auf die Spur bringen soll, ihm den Weg zu weisen. Das habe ich aber in der Regel als solches abgelehnt. Ich habe gesagt, ich gehe gerne bei dem Patienten vorbei. Aber sie können nicht erwarten, dass ich in ihrem Sinne auf ihn einwirke.

Hermann: Allein das Ansinnen bedeutet, dass man ein Angehörigengespräch führt.

Beim Eintreffen am Klinikum fuhr ein Bestattungswagen an mir vorbei. Sind Sie als Seelsorger angesichts des nahenden Todes von Patienten hilflos? Wie können Sie Angehörige trösten?

Hermann: Es gibt den Wunsch nach einer Aussegnung. Von katholischen Christen kommt oft der Wunsch nach einer letzten Ölung. Aussegnungen kommen vor. Dabei geht es weniger um den Verstorbenen, sondern um deren Angehörige. Gerade auf den Intensivstationen, auf denen für Lebenspartner plötzlich chaotische Situationen entstehen. Wir werden auch zu Sterbenden gerufen und hin und wieder auch in den Abschiedsraum.

Dörr: Die Aussegnung gehört zu den Schwerpunkt-Ritualen. Manchmal habe ich einen Patienten im Klinikum ein Vierteljahr begleitet, beim dem sich dann das Leben zum Sterben neigt. Wenn die Angehörigen mitbekommen haben, dass ich den Patienten kontinuierlich besucht habe, werde ich gerufen. Ein Beispiel. Auf der Intensivstation steht auf einmal die Frage der Therapiebegrenzung an. Sollen die lebenserhaltenden Medikamente abgesetzt werden. Dann ist es so, dass wir manchmal von den Angehören dazu gebeten werden, um die Entscheidungen geistlich zu begleiten und den Weg gemeinsam zu begehen. Manchmal sind wir dann beim Sterbeprozess dabei. Für Angehörige ist es eine wichtige Station beim Abschiednehmen. Das nehmen nicht viele Angehörige wahr. Hin und wieder werden wir gebeten, auch die Bestattung zu übernehmen. Dabei gibt es auch die Möglichkeit, noch im Nachgang Gespräche zu führen und auf helfende Angebote wie Trauerbegleitung in der Region zu verweisen.

Hermann: Für mich war die Beerdigung von Patienten eher die Ausnahme. Das kam schon vor bei Mitarbeitern der Klinik oder bei Menschen von konfessionelle Bindung. Wenn ich auf der Palliativstation war und habe gesehen, dass jemand verstorben ist oder die Mitarbeitenden haben es mir berichtet, dann bin ich hingegangen und habe mich von dem Menschen verabschiedet, den ich eine Zeit lang begleitet habe.

Ein Seelsorger in der Kirchengemeinde hat eine große Bandbreite von Begegnungen, auch mit Kindergärten, bei Jubiläen und Gemeindefesten. Ihre Arbeit ist nur auf einen eher schweren Bereich beschränkt. Macht Sie das depressiv oder wie gehen Sie damit um?

Dörr: Es gibt immer wieder in Gesprächen Momente, wo ein Lachen herausbricht. Ich nehme hier das ganze Leben war in seiner Fülle. Das wird vom Patienten eher defizitär dargestellt. Aber es geht ja im Gespräch auch darum, was gibt es im Leben, was möglicherweise hell ist oder den Alltag nicht so grau macht. Wo sind die Anker im Leben? Es kommt also die Fülle des Lebens vor. Deshalb habe ich hier in der Klinik nichts vermisst. Als Gemeindepfarrer hatte ich in Dutenhofen die Osternachtsfeier eingeführt. Dort kamen Menschen am frühen Morgen in die Kirche, die man sonst nicht dort gesehen hat. Diese Feier war für mich auch wichtig, diese liturgische Feier. Das habe ich anfangs hier vermisst. Den Dienst als Klinikseelsorger können die Mitarbeiter nur gut machen, wenn sie selbst Supervision wahrnehmen. Das habe ich schon ich schon als Gemeindepfarrer getan. Es ist wichtig, im Einzelgespräch auch belastende Dinge auszusprechen.

Hermann: Es gibt hier kein Kindergartenfest wie in einer Gemeinde. Ich habe mit dem Dienst in der Spezialseelsorge nicht die Last einer Hausmeister- und Verwaltungsarbeit. Zudem sind und waren wir auch Mitarbeiter in der Notfallseelsorge.

Dörr: Eine Motivation für mich ans Klinikum zu gehen, war die Erkenntnis, dass ich im Gemeindedienst für meine Begabung der Seelsorge zu wenig Raum fand.

 

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Der evangelische Pfarrer Hans-Dieter Dörr und der katholische Klinikseelsorger Peter Hermann beenden in diesen Wochen ihren Dienst am Klinikum Wetzlar