Gedankensplitter, Eindrücke, Gespräche zum Krieg in der Ukraine:
In diesen Tagen ist es so gut wie unmöglich, vom Krieg in der Ukraine einen genauen Überblick zu gewinnen. Freunde und Freundinnen, die zu den Netzwerkern der Partnerschaft mit der Orthodoxen Kirche von Tambow gehören, sind fassungslos und finden nur schwer eine Sprache für das, was dort passiert.
„Wie gut, dass du mich anrufst,“ sagte eine junge Frau aus Tambow am zweiten Kriegstag. „Ich hätte mich nicht getraut, ich schäme mich so sehr, dass mein Land so etwas tut.“ Sie wohnt seit einigen Jahren mit ihrer Familie in G., Mutter, Großmutter und Tante sind in Tambow, die Sehnsucht nacheinander ist groß, mit den Sanktionen des Westens nehmen die Sorgen auf ein Wiedersehen auf unbestimmte Zeit zu. Und in den Gesprächen per Video wägen beide Seiten ihre Worte ab. So wird das, was eigentlich ausgesprochen werden möchte, nicht gesagt, die Zone des Schweigens wächst.
„Aber wir haben doch bereits seit acht Jahren Krieg im Donbas“, schreibt K. aus Lettland, „und jetzt gibt es endlich die Möglichkeit, dass die Menschen dort im Frieden leben können!“ Von ihr lernen wir die andere Sicht auf die Dinge, aber auch, dass unser nächstes Gespräch mit viel Arbeit verbunden sein wird.
„Ich war heute bereits zum Demonstrieren!“ V. aus Tambow studiert in Bamberg, schloss sich gleich am 24. Februar einigen hundert Demonstranten an und erzählt mir von ihren ukrainischen Studienfreunden und dass sie sich total hilflos fühle. Und dabei liebe sie ihr Land.
Die jungen Soldaten, die für ihr Land in den Krieg geschickt werden, lieben ihr Land auch. Sie nähmen an Wehrübungen teil, wird ihnen von offizieller Stelle gesagt. Und plötzlich steht vor ihren Panzern eine alte Frau, die sie fragt, was sie denn in der Ukraine wollten. Und da müssen sie antworten, dass sie das auch nicht wüssten. Bereits an die 6000 von ihnen kamen bereits bei dem Krieg mit der Ukraine ums Leben. Und die Frage, wer sie zurück nach Russland holt, um sie in ihrer Heimat zu begraben, ist ungeklärt. Ob ihre Särge auch so, ohne irgendeine Öffentlichkeit, bei anbrechender Nacht auf den Friedhöfen in die Erde gelassen werden? Und ob ihre Familien darüber Stillschweigen zu bewahren haben? In den Tschetschenienkriegen war das so, das erzählte man uns an den entsprechenden Gräbern in Tambow.
Präsident Putin wurde in diesen Tagen von den Metropoliten der Ukrainisch Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchates und der Orthodoxen Kirche der Ukraine gebeten, den Bruderkrieg sofort zu beenden und sich um die „würdige Rückführung der Leichname der russischen Soldaten zu kümmern“. Von Patriarch Kyrill gibt es bislang kein Wort zur Verurteilung des Krieges. Erzbischof Tichon von Berlin, Leiter der Diözese von Berlin und Deutschland, spricht in seiner Botschaft an die Geistlichen, Mönche und Nonnen der Diözese vom verstärkten „Gebet für die Menschen, die sich in Not befinden, wie für diejenigen, die heute Verantwortung tragen für die Zukunft Europas und der ganzen Welt, für die Befriedung der feindlichen Seiten.“ Im Gottesdienst der Russisch Orthodoxen Gemeinde in Krofdorf stand am letzten Sonntag eine in eine ukrainische Flagge gewickelte Frau wie ein lebendiges Mahnmal. Zwei Stunden stand sie da. In dieser Gemeinde sind 23 Nationalitäten vertreten. Priester Georgij Edelstein aus Moskau, Mitglied der Moskauer Helsinki Gruppe positioniert sich eindeutig gegen den Krieg in der Ukraine und vergleicht das Vorgehen Wladimir Putins mit Hitlers Handeln vom 1. September 1939. „Das Blut der Einwohner der Ukraine wird nicht nur an den Händen der Machthaber der Russischen Föderation und der Soldaten, die diesen Befehl ausführten, kleben bleiben. Ihr Blut klebt an den Händen von uns allen, die diesen Krieg gebilligt oder einfach geschwiegen haben.“ (NÖK 27.2.22)
Der Osteuropa Ausschuss hatte an dem Tag des Besuches von Bundeskanzler Olaf Scholz in Moskau einen Brief an den Tambower Metropoliten geschrieben, in dem es u.a. heißt:
„ In solchen Zeiten können wir in unseren Kirchen, in unseren Diözesen und Kirchenkreisen, in unseren Gemeinden bei Ihnen und bei uns, nicht zuletzt in unseren Städten Wetzlar und Tambow zurückblicken auf 30 Jahre freundschaftlich-partnerschaftlicher Verbundenheit, in denen unzählige deutsche und russische Menschen, Gläubige sich kennenlernten, die jeweils andere Kultur in sich aufnahmen, die Sprache des Anderen erlernten, sich vertrauten, nicht selten zu einem Familienmitglied im anderen Land wurden. Gerade nach der Zeit des Zweiten Weltkrieges und den Jahrzehnten des Kalten Krieges war das für alle Beteiligten wie ein Wunder, für das es bis heute nicht genug Dank geben kann“.
Briefe an Tambower Verantwortliche und Freunde der Partnerschaft aus dem Geistlichen Seminar, dem Orthodoxen Gymnasium, der Polenow Kunstschule blieben bisher unbeantwortet. Ob es auch dort Äußerungen oder auch Demonstrationen gegen Putins Krieg gibt, entzieht sich unserer Kenntnis.
Wofür treten wir auch in Zukunft ein? Für die Überwindung des tödlichen Schweigens in den russischen Familien, in Gesellschaft und Kirche, für Wachsamkeit, Offenheit und Ehrlichkeit in direktem Gespräch und im Gebet.
Ursula Küppers, stellvertretende Vorsitzende Osteuropa Ausschuss / Foto: (Kazaner-Männerkloster bei Tambow): Udo Küppers
2. März 2022