Diese Predigt zum Bibeltext aus dem Philipperbrief, Kapitel 2,6-11, hat Pfarrer Björn Heymer verfasst. Sie ist für den Sonntag Trinitatis, 30. Mai 2021, im Wetzlarer Dom bestimmt:
Ihr Lieben,
reden wir über Versöhnung.
Für Paulus ist das offenbar das zentrale Thema des Glaubens.
Eben haben wir es gehört.
Versöhnung – das klingt gut – wie ein Sonnenstrahl, der durch Wolken bricht.
Im jüdischen Kalender gibt es ein eigenes Fest dafür:
Der Jom Kippur – der große Versöhnungstag ist das größte aller Feste.
In biblischen Zeiten wurde dazu ein besonderes Opfer dargebracht.
Ein Priester übertrug symbolisch die Schuld des Volkes auf einen Ziegenbock.
Der wurde dann in die Wüste gebracht, wo er starb.
Damit war die Schuld des Volkes weggenommen – für das vergangene Jahr.
Eine Sühnehandlung, die jedes Jahr wiederholt wurde.
Ein Geschäft: geschehene Schuld hat einen Preis – der wird bezahlt.
Es klingt ganz ähnlich, ist aber nicht die Versöhnung, von der Paulus spricht.
Versöhnung ist etwas Einmaliges. Vielleicht vergleichbar mit einer Adoption.
Hinter der Versühnung steckt eine bestimmte Vorstellung von Gott und uns:
Menschen beleidigen gewissermaßen Gott, wenn sie schuldhaft handeln.
Und da sich im Laufe eines Jahres da so einiges ansammelt, braucht es Sühne.
Damit wird sozusagen das Schuldenkonto wieder auf Null gesetzt.
Gott wird hier gedacht als der große Erbsenzähler.
Der Bilanzbuchhalter menschlichen Vergehens.
So ein Gott hat an Versöhnung gar kein Interesse.
Den interessiert nur: Gibt es für jedes Übertreten von Gesetzen einen Ausgleich.
Das ist nicht der Gott, von dem Jesus uns erzählt hat. Ganz und gar nicht.
Ein Bilanzbuchhalter handelt nicht aus Liebe, sondern aus Pflichtbewusstsein.
Er ist angetrieben vom Wunsch, seine Sache richtig zu machen.
Gott so zu sehen – das ist zutiefst menschlich – aber falsch!
Jesus hat von seinem Vater im Himmel ganz anders gesprochen.
Da erzählt er von einem Hirten, der ein Schaf verloren hat.
Er lässt seine Herde zurück und sucht das Verlorene.
Richtig so. Keinen Verlust hinnehmen.
Jedem Lamm, das den Anschluss an die Herde verloren hat, nachgehen.
So haben wir es hundertfach gehört.
Und weil wir es in Gottesdiensten gehört haben, denken wir selbstverständlich:
So handelt ein vorbildlicher, ein guter Hirte.
Dabei ist diese Geschichte für echte Hirten höchst fragwürdig:
Da lässt einer seine ganze Herde zurück.
Nicht im Stall, sondern unbewacht, in der Wüste.
Für ein Lamm, das verloren gegangen ist? Nein – etwas Schwund ist immer.
Der seltsame Hirte bei Jesus kann wohl nicht rechnen.
Als er das Eine schließlich findet, bringt er es nicht zu den anderen zurück.
Nein, er trägt es ins Dorf und feiert mit seinen Freunden ein Fest.
Wie verrückt ist das denn?
Nicht auszudenken, was von seiner Herde am Ende noch übrig ist.
Ihr Lieben, Jesus beschreibt Gott hier doch sehr fragwürdig.
Genauso in der nächsten Geschichte.
Eine Frau, die offenbar ein Messi-Problem hat, feiert ein Fest mit Freundinnen.
Der Anlass: wäre jeder normalen Hausfrau höchst peinlich.
In ihrem Chaos hat sie eine Münze verloren.
Und findet sie erst nach gründlichem Aufräumen wieder.
Ich kenn das, aber deshalb Leute einladen?
Ne, da war ich doch selber schuld dran.
Und auch dieser Vater zweier Söhne, wo einer das Erbe einfordert.
Was für ein Mann, der so einer unverschämten Bitte nachgibt!
Zu feige, einen Konflikt auszutragen.
Der riskiert mal eben sein halbes Vermögen und verliert es dann auch.
Kein Hörer damals hätte auch nur einen Deut Verständnis für so einen.
Es sind Witzfiguren, die wir nur aus einem Grund nicht komisch finden.
Wir haben uns daran gewöhnt, das normal zu finden.
Mit solchen Gestalten Gott zu vergleichen?
Die Gotteslästerung darin überhören wir geflissentlich.
Vielleicht ahnen wir, womit Jesus sich damals nicht nur Freunde machte.
Weshalb es eher fragwürdige Gesellen waren, die ihn gut fanden.
Die Liste solcher anstößigen Gottesvergleiche lässt sich fortsetzen.
Gemeinsam ist dem allen dieses:
Jesus bezeugt einen Gott, der nicht auf Macht und Unterwerfung aus ist.
Sondern – und damit sind wir beim Thema – der Menschen annimmt.
So, wie sie sind. Der Versöhnung will. Buchstäblich um jeden Preis.
Selbst, wenn er sich selber dabei lächerlich macht.
Wie jener Vater, der seinem Verräter – Sohn entgegenrennt.
Der den stinkenden, verlotterten Bettler umarmt.
Der ihn sofort, ohne Umschweife wieder als Erbe einsetzt.
Das ist zu billig! Ich höre geradezu den Protest der Frommen.
Auch meinen eigenen Protest.
Ihr etwa nicht, wenn ihr vorhin wieder an dem Bettler vorbeigegangen seid?
Ihr Lieben – Versöhnung ist irre.
Jesus erzählt von einem Gott, der bis zur Selbstverachtung die Sünder liebt.
Ja, klar gibt es auch die anderen Berichte.
Wo Jesus immerhin gesagt hat: Geh, und sündige hinfort nicht mehr.
Oder: Geh, verkaufe alles, was Du hast und gib es den Armen.
Solche Geschichten passen uns viel eher ins Bild.
Obwohl wir das für uns selber dann doch nicht so leben.
Aber es klingt eben richtiger, gerechter.
Wie um alles in der Welt konnte Jesus so verrückt weitherzig von Gott denken?
Die Erzählung vom verlorenen Sohn könnte uns eine Antwort geben.
Wenn wir der Frage nachgehen, wer denn eigentlich dieser Sohn war.
Klar – das sind wir. Die verlorenen Sünder, die endlich umkehren zu Gott.
So wurde es uns hundertmal erklärt.
Und wieder: es klingt richtig, aber so ganz fühlen wir uns doch nicht so.
Die ersten Christen haben diese Geschichte vielleicht anders verstanden.
Ein altes Lied aus der Urgemeinde hat mich da auf die Spur gebracht:
Es ist der sogenannte Philipper-Hymnus, den Paulus in einem Brief zitiert:
Jesus, der in göttlicher Gestalt war,
hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an,
ward den Menschen gleich
und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode,
ja zum Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben,
der über alle Namen ist,
dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie,
die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
und alle Zungen bekennen sollen,
dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.
Jesus ging weg aus der himmlischen Welt – auf die Erde.
Wie der Sohn im Gleichnis lebte er aus freiem Entschluss in der Fremde –
und auch Jesus umgab sich mit höchst fragwürdigen Menschen.
Ich kenne Eure Kritik – scheint Jesus hier seinen Gegnern zuzurufen.
Wie der Sohn im Schweinekoben erschien Jesus wie ein verachteter Sklave.
„Ich bin nicht mehr wert, Dein Sohn zu heißen“ – sagt der Sohn im Gleichnis.
Damit erklärt er sich selber für tot.
Und dann erlebt er Versöhnung!
Der Vater umarmt ihn und setzt ihn neu als Eigentümer und Erben ein.
So wie Jesus mit der Auferweckung aus dem Tod wieder zu dem wird,
der er in Wahrheit ist: der Sohn, der Erbe, der mit Vollmacht.
Gott hat Jesus erhöht – wie im Gleichnis der Vater den Sohn.
Und wenn wir bisher immer gedacht haben: „der Sohn, das soll doch ich sein“ –
Dann stimmt das und ist kein Widerspruch!
Versöhnung, das ist das Schlüsselloch, durch das wir in den Himmel kommen.
Jesus ist genau diesen Weg uns vorangegangen.
Damit der Weg frei ist – für jeden, der das will.
Versöhnung, das braucht beides:
Eine Wahrheit über Gott, die erst einmal höchst irritierend erscheint.
Da ist Gott ein von Liebe Getriebener.
Dem offenbar sein eigener Ruf wenig bedeutet.
Der sogar bereit ist, sich lächerlich zu machen.
Der die Ewigkeit verschenkt – ohne Wenn… und aber…
Und es braucht unser Ja! Um es noch einmal mit Paulus zu sagen:
Also, meine Lieben, schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen. steht direkt nach dem Hymnus im Philiperbrief.
Es kommt eben auch darauf an, die Versöhnung anzunehmen.
Seht zu, dass Ihr sie nicht verpasst, die Versöhnung.
Im Rückblick werdet ihr es schon merken:
Selbst die Sehnsucht nach Frieden mit Gott ist nicht meine Leistung.
Ja, nicht einmal meine Entscheidung.
Sondern Gottes guter Geist, der mich antreibt. Gott sei Dank!
Und wir? Was ist, wenn wir gefragt sind, uns zu versöhnen mit Anderen?
Wenn verfeindete Völker sind versöhnen sollen?
Also, dass das alles andere als leicht ist, sollte klar geworden sein.
Es braucht schon ein hohes Maß an selbstloser Verrücktheit und Liebe dazu.
Oder ein gehöriger Schluck aus der Pulle „Göttliches Wesen“.
Wo Versöhnung wirklich gelingt – da hat Er seine Finger im Spiel.
So viel scheint mir sicher.
Was nicht heißt, dass wir es nicht versuchen sollten.
Uns zu versöhnen – auch und gerade mit Feinden.
Nur wisset: das ist kein leichtes Ding!
Amen!