Diese Predigt zum Sonntag Trinitatis, 7. Juni 2020, zu 4. Mose, Kapitel 6, Verse 22 bis 27, über das Thema „Segen“ stammt von Manuela Bünger, Pfarrerin der Kirchengemeinden Dorlar und Atzbach:

Liebe Gemeinde!

In der heutigen Predigt geht es um einen biblischen Text, den wir eigentlich vom Ende eines Gottesdienstes her kennen. Es sind die sicherlich vielen bekannten und vertrauten Worte des sogenannten ‚aaronitischen‘ Segens.

Ich lese aus dem 4. Buch Mose, Kapitel 6:

22 Und der HERR redete mit Mose und sprach:
23 Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet:
24 Der HERR segne dich und behüte dich;
25 der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;
26 der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.
27 Denn ihr sollt meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.

Weil dieser Segen Aaron, dem Bruder des Mose, anvertraut wurde, nennen wir ihn heute den aaronitischen Segen, manchmal auch den priesterlichen Segen. Denn Aaron und seine Söhne waren nach dem Auszug aus Ägypten die ersten von Gott ernannten Priester des Volkes Israels.

Noch heute hat dieser Segen daher einen wichtigen Platz im jüdischen Gottesdienst. Es ist also nicht nur unser Segen. Er ist viel älter als die Kirche und das Christentum. Und dass er auch in unserer Kirche als Schlusssegen verwendet wird, hat eigentlich noch gar keine lange Tradition.
Das Neue Testament nimmt nämlich gar keinen Bezug auf diesen Segen aus dem Alten Testament und auch in der sich anschließenden Kirchengeschichte kommen diesen Segensworten viele Jahrhunderte lang keinerlei Bedeutung zu. Erst Martin Luther schlug ihn im 16. Jahrhundert als eine Möglichkeit vor, mit diesen Worten in einem evangelischen Gottesdienst zu segnen. Aber durchgesetzt hat sich dieser Segen erst am Ende des 19.Jahrhaunderts, also erst vor etwas mehr als 100 Jahren.
Aber warum geht es mir so – und wahrscheinlich auch vielen von euch -, dass ich diesen aaronitischen Segen und seine Worte als den Segen überhaupt ansehe, als hätte es nie etwas anderes zuvor gegeben?

Was ist an diesen Worten? Ist es die tausende von Jahren alte Tradition, die dahintersteckt? Ist es das Wissen darum, dass es ein in priesterlicher Vollmacht zusprechender Segen ist? Oder sind es diese ausdrucksstarken Worte?
Auf jeden Fall handelt es sich bei diesem Segen, um einen dreifachen Blick Gottes auf unser Leben oder anders ausgedrückt: um seine Zuwendung in dreifacher Weise; und diese Zuwendung wird ins Besondere durch die Rede vom An-gesicht Gottes zum Ausdruck gebracht. Also fragen wir zunächst: Was meint die Bibel eigentlich, wenn sie vom Angesicht Gottes spricht?

1) Das Angesicht Gottes
Sicherlich meint sie nicht, dass wir uns Gottes Angesicht nun so wie unsere menschlichen Gesichter vorstellen: lang, breit, dick, schmal … und mit Augen, Mund und Ohren versehen. Aber es ist dennoch interessant, dass das Alte Testament sowohl für das Gesicht des Menschen als auch für Gottes Angesicht dasselbe Wort verwendet: „Panim“.
Das legt nahe, dass es da doch auch einen gewissen Zusammenhang gibt. Und wenn uns einmal überlegen, was das Gesicht für uns Menschen bedeutet, wird dieser Zusammenhang auch sehr schnell deutlich.
Unser menschliches Gesicht ist ja die Körperpartie, auf die wir zuerst schauen, wenn wir über einen Menschen etwas erfahren wollen. Es gibt den schönen Ausspruch von Sir Winston Churchill: „Mit 20 Jahren hat jeder das Gesicht, das Gott ihm gegeben hat, mit 40 Jahren das Gesicht, das ihm das Leben gegeben hat.“ Dieser Ausspruch macht deutlich, dass auch ein menschliches Gesicht mehr ist als Haut und Knochen. Gesichter sind mehr als Stirn oder Kinn, mehr als nur Ohren, Nase, Augen und Mund. Gesichter sprechen – auch ohne Worte. Sie sprechen von unserem Leben, von unserer Lebensweise und auch von dem, was seine Spuren im Leben hinterlassen hat.
Ähnlich wie man etwa im „Gesicht“ einer Landschaft das Charakteristische dieser Landschaft erkennt, so erkennt man auch im Gesicht eines Menschen Wesentliches. Im Gesicht kommt die „Ausstrahlung“ eines Menschen zum Ausdruck. Es gibt das „lächelnde Gesicht“, das „bedrückte Gesicht“, das „strahlende Gesicht“. Wenn jemand „das Gesicht verhüllt“, ist er verletzt, empfindet Trauer, Scham, vielleicht Erniedrigung.
„Das Gesicht verlieren“ bedeutet: ich bin in meinem Innersten, in meinem Wesen getroffen und entblößt. Wir alle bemühen uns deshalb „das Gesicht zu wahren“.
Man kann den Dingen „ins Gesicht“ sehen oder „das Gesicht abwenden“. Der Ausdruck dessen, was wir sind und was wir fühlen, zeigt sich im Gesicht, das wir machen oder manchmal auch aufsetzen.
Interessanterweise, das wissen wir, kann keiner von uns sein eigenes Gesicht jemals im Original sehen. Wir selbst sehen es immer nur im Spiegelbild. Im Original sehen es nur die Menschen, mit denen wir zusammenleben, zusammenarbeiten, zusammentreffen.
Der Mensch braucht gerade deshalb auch den anderen, um sein eigenes Gesicht zu sehen. Erst wenn einer den anderen richtig (an)sieht und an dessen Gesicht abliest, wie es ihm geht, wie er auf Worte, auf Gestik oder Mimik reagiert, erst dann geschieht Begegnung.
Deshalb kann es uns u.U. sehr deprimierend sein, wenn wir den ganzen Tag oder über einen längeren keinen Menschen zu Gesicht bekommen. Das bedeutet dann nämlich auch: Ich werde nicht mehr angesehen, nicht mehr wahrgenommen, werde für andere regelrecht gesichtslos und das macht auf Dauer zutiefst einsam. Und da denke ich an viele ältere Menschen in dieser Corona-Zeit, die weniger unter der Angst vor Ansteckung leiden als vielmehr an der Isolation, der Einsamkeit.
Aber auch sonst im Leben kennen wir das Problem der Gesichtslosigkeit: Z.B. beim Telefonieren (da hören wir aber wenigstens noch den Klang der Stimme), doch bei einer SMS oder einer E-Mail ist leicht mal ein Wort so daher gesagt bzw. geschrieben. Wir müssen ja nicht sehen, wie der andere reagiert und ob er dadurch vielleicht traurig, verletzt oder wütend wirkt.
Es hat einmal jemand gesagt: Es wäre ein echter Ruck, wenn aus einer Gesellschaft von Fernsehern eine Gesellschaft von Hinsehern würde. Menschen, die einander ins Gesicht sehen.
In der Bibel kommt das Wort Gesicht bzw. Angesicht sehr häufig vor; sowohl das Gesicht der Menschen als auch das Angesicht Gottes. Dem Angesicht Gottes wird dabei immer etwas Bedeutendes und etwas Machtvolles zugeschrieben, es steht für die wirkungsvolle Kraft, die von Gott ausgeht, also sozusagen für das Wesen Gottes. Und diese seine Ausstrahlung ist noch wesentlich wirkungsvoller als die Ausstrahlung jeglichen menschlichen Gesichtes.
Denkt z.B. an Adam. Er versteckt sich sogar nach dem Sündenfall vor dem Angesicht Gottes. Er fürchtet Gottes Reaktion und auch, dass er in dieser Begegnung dann sein eigenes Versagen in seiner ganzen Härte entdecken und aushalten muss. Denn in der direkten Schau des Angesichts Gottes tritt unser Gesicht im Original-Zustand zutage, das wahre Gesicht sozusagen unrasiert, ungeschminkt, unverhüllt.
Das ist gewiss auch der Grund, warum sich Mose dann später, der doch so gerne das Angesicht Gottes gesehen hätte, schließlich von Gott sagen lassen muss: „mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Immerhin darf Mose Gott hinterher schauen und so in ganz besonderer Weise Gottes Nähe und sein Dabeisein erfahren.
Auch wenn wohl das Angesicht Gottes unsere Abgründe ans Licht befördern kann, verbinden wir Menschen doch auch mit Gottes Angesicht seine besondere Zuwendung, ein Überwältigt-sein von Gottes Schönheit und Größe und ein Geborgensein von ganz besonderer Art. So findet sich der Wunsch, Gott zu sehen, auch in vielen weiteren biblischen Stellen. Wie etwa Psalm 42,3: „Wann werde ich dahin kommen, Gottes Angesicht zu schauen.“
Auch wenn im Alten Testament das Gesicht Gottes verborgen bleibt, weiß Gott doch auch um unser Bedürfnis. Er weiß, wie gut es uns tut, gesehen und wahrgenommen zu werden.
Übrigens heißt „panim“ – dieses hebräische Wort für Gesicht – erst einmal ganz wörtlich „Zuwendung“. Luther hat es dann mit „Gesicht“ übersetzt, wenn es sich um einen Menschen handelt, und bei Gott spricht er vom „An-gesicht“, im Sinne von „von Gott angesehen werden“.

2) Die Struktur des Textes
So wendet sich Gott nun durch den aaronitischen Segen in dreifacher Weise uns zu. „Der HERR segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir seinen Frieden.“
Eine dreigliedrige Formel. Die sich bis zu dem großen Wort des Friedens steigert. Große Worte in so wenigen Zeilen.
Im Hebräischen steigert sich das Ganze übrigens auch rein optisch – die erste Zeile kommt mit 3 Worten aus, die 2. Zeile hat 5 Worte, die 3. Zeile 7. Sieben, die Zahl der Vollkommenheit im alten Israel – sie steht am Ende. Und damit das große Wort „Shalom“: Friede.

Würde man da außen herum eine Linie ziehen, ergäbe es ein Dreieck. Das Dreieck ist zugleich das Symbol der Dreieinigkeit Gottes, deshalb hat Luther diesen Segen auch trinitarisch verstanden: Gott begegnet uns hier in dreifacher Weise als Vater, Sohn und Heiliger Geist und doch ist es immer der eine Gott, das eine göttliche Wesen! Daher ist dieser Text auch am heutigen Sonntag „Trinitatis“ Predigttext.

Übrigens: Das „dich“ und „dir“ in diesem Segen ist nach dem hebräischen Sprachgebrauch eine kollektive Anrede. Sie gilt „euch“ als Gemeinde und „dir“ je als Teil der Gemeinschaft. Ein Segen vereinzelt nicht, sondern verbindet.
Doch schauen wir uns nun die Zusagen im Einzelnen an.

3) Die Zuwendungen Gottes im Einzelnen
a) Die erste Zuwendung Gottes: Der Herr segne dich und behüte dich.
Behüten scheint mir fast etwas zu lieblich übersetzt zu sein. Wir können es auch mit „bewachen“ übersetzen. „Der Herr segne dich und bewache dich.“ Gott bewacht uns, allerdings nicht wie ein Gefängnisaufseher, sondern vielleicht eher wie ein Leibwächter. Wir können uns das Gemeinte gut vorstellen, wenn wir an einen Leibwächter denken, der einen prominenten Menschen bewacht: Einen Präsidenten oder einen Popstar oder einen Wirtschaftsboss. Solch ein Leibwächter ist sich in der Regel bewusst, wie ernst seine Aufgabe ist. Die Gefahren muss er schon im Voraus wittern: Wann ist der- oder diejenige, die ich schützen muss, besonderem Risiko ausgesetzt? Tag und Nacht muss ein Leibwächter seinen Dienst verrichten. Solch ein Leibwächter will Gott uns sein.
In Spielfilmen ist nun aber dieses auch ein beliebtes Motiv: Dass diejenigen, die bewacht werden müssen, den Ernst der Lage nicht erkennen. Sie sind unbekümmert und schätzen die Gefahr nicht richtig ein. Plötzlich geht der Popstar ganz spontan abends aus, weil ihm gerade danach ist und bringt sich dadurch selbst in Gefahr.
Was wird Gott sich manchmal Sorgen um uns machen, wenn wir seinen Schutzbereich verlassen.
Ein rechter Leibwächter wird seinen Schützling aber selbst dann nicht allein lassen. Er wird ihn sogar suchen, wenn der sich heimlich aus dem Staub gemacht hat. Und ein wirklich guter Leibwächter wird unter Umständen mit seinem Leben für den Schutzbefohlenen einstehen.
Wissen Sie, ich glaube, ich habe Gott als meinem Leibwächter schon ganz schön viel Arbeit gemacht. Die Rechnung könnte ich gar nicht bezahlen, die er mir stellen müsste. Das Tolle ist: Ich muss es auch nicht. Er macht’s einfach so für mich, weil ich für ihn unendlich wertvoll bin. Und das gilt für Sie auch. Dieser erste Blick Gottes auf unser Leben ist die Zuwendung des Vaters und Schöpfers: Gott, der uns geschaffen hat, lässt uns nicht allein. Er ist nicht wie ein Fabrikant, der für ein neu gekauftes Produkt nur 2 Jahre Garantie gewährt, nein, er will unser ganzes Leben an unserer Seite verbringen. Unter diesem Zuspruch dürfen und können wir leben: Der Herr segne dich und behüte/ bewache dich.

a) Wir kommen zur zweiten Zuwendung Gottes: Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.
Sich behütet und beschützt zu wissen, das ist das eine, aber wir Menschen brauchen auch das andere: Die Nähe, die Beziehung zu jemandem, der uns freundlich gesonnen ist. Wir brauchen es, dass uns jemand mag und das auch in seinen Blicken zum Ausdruck bringt. Dass sich jemand freut, wenn er uns sieht und nicht betreten auf den Boden schaut oder gar durch uns hindurch. Dass er uns eben sein Gesicht zeigt.
Das ist das erste, was bei einem Säugling eine Reaktion hervorruft: Das Gesicht eines Menschen, der Mutter oder des Vaters. Dieses Bedürfnis nach Zuwendung ist ganz tief in unsere Seele hineingelegt.
Für einen kranken Menschen, der nicht aus dem Bett kann und dem die Sinne schwinden: Ein von Freundlichkeit glänzendes Gesicht über sich ist das, was er braucht.
Ein über uns leuchtendes, strahlendes Gesicht ist vergleichbar mit der Sonne, die über uns aufgeht: Es wird uns warm, wir sind auf einmal voller Energie, Lebensfreude packt uns. Ein solches uns zugewandtes Gesicht tut uns gut. Es reißt uns heraus aus unserem Alltagstrott.
Auch Gott hat uns sein strahlendes, freundliches Angesicht gezeigt; es ist das Gesicht Jesu.
Seine Augen sind voller Liebe, seine Augen sind voller Freundlichkeit und Sanftmut. Sein Gesicht strahlt mich an und wendet sich mir in seiner Barmherzigkeit zu und man weiß sofort, auch mein Versagen trennt mich nicht mehr von Gottes Herz. Jesus ist dieses freundliche, barmherzige Angesicht Gottes.
Der Herr lasse leuchten dieses sein Angesicht über dir und sein dir gnädig.

c) Kommen wir schließlich zur dritten Zuwendung Gottes: Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.
Was meint nun dieses Erheben des Angesichtes? Manchmal gebraucht man das in einem negativen Sinn: Einer erhebt sich über den anderen. Das ist mit dieser Formulierung nicht gemeint.
Es geht hier vielmehr um eine Aktion, eine Bewegung. Gott tut etwas dafür, dass er uns in den Blick bekommt und legt dann sein Angesicht auf uns. D.h.: Er möchte sein ganzes Wesen auf uns legen. Wir sollen hautnah seine Kraft spüren, sie soll uns begeistern, überwältigen, und uns selbst in Bewegung setzen. Diese dritte Zuwendung ist Power, Veränderung von innen nach außen. Es ist Gottes Zuwendung in seinem Heiligen Geist. Segen ist nicht etwas, was ich für mich behalten kann. Segen fließt über. Andere werden dies spüren. Wer von Gott angesehen wird, sieht auch andere anders an. Schaut ihnen freundlich ins Gesicht. Und so endet diese dritte Zuwendung mit dem Friedenswunsch.
Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.
Sie kennen die Geschichte vom Rabbi, der seine Schüler fragt: Sagt mir, wann ist der Zeitpunkt, wo die Nacht in den Tag übergeht? Ein Schüler antwortet: Sag Meister, ist es dann, wenn ich anfange, die Maulbeerbäume von den Tamarisken zu unterscheiden. „Nein“, da ist es nicht“. Ist es vielleicht dann, wenn ich plötzlich die Katze von einem Hund in der Dunkelheit zu unterscheiden beginnen.“ „Nein“, sagte der Rabbi: „Der Tag beginnt, wenn ich im Gesicht meines Gegenübers auf einmal den Bruder oder die Schwester sehe.“
Na, es ist doch wunderbar, dass Gott uns so anschaut, dass wir selbst und andere in einem neuen Licht sehen dürfen. So segne uns Gott.

Amen.

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