Diese Predigt zu Pfingsten, 31. Mai und 1. Juni 2020, zu Apostelgeschichte, Kapitel 2, Verse 1 bis 18,  stammt von Manuela Bünger, Pfarrerin der Kirchengemeinden Dorlar und Atzbach:

Liebe Gemeinde!

Ich wage zu Beginn meiner Predigt heute einmal folgende These zu formulieren: „Pfingsten ist ein Fest größter Ernüchterung!“ „Wie bitte!?“ mögen jetzt vielleicht einige von euch denken. Haben wir nicht gerade in der Lesung aus der Apostelgeschichte 2 davon gehört, dass es damals bei der Ausgießung des Heiligen Geistes doch eher feurig und lebendig zuging?“ Ja, das stimmt. Und  dennoch bleibe ich bei meiner Aussage: „Pfingsten ist ein Fest größter Ernüchterung!“ Und zwar in Bezug auf die menschliche Hybris. Die Menschheit denkt: „Wir haben alles im Griff.“ Pfingsten macht dagegen deutlich: „Nein, im Griff haben wir nur sehr wenig.

Um das zu verdeutlichen, möchte ich das neutestamentliche Pfingstfest einmal in den Kontext seiner jüdischen Tradition, bzw. alttestamentlicher Wurzeln stellen.

  1. Eine erste Verbindung ist mit der Erzählung vom Turmbau zu Babel gegeben. In 1.Mose 11 wird berichtet, dass die Menschen in ihrer Hybris, also in ihrem menschlichen Hochmut, so sein wollten wie Gott und als Zeichen dafür einen hohen Turm bauten, der bis in den Himmel reichte. Wir kennen diese Geschichte. Und dann folgt etwas sehr Humorvolles, wie ich finde. Die Menschen bauen, um Gott zu erreichen, und bauen und bauen, und es heißt: „Gott fährt vom Himmel hinab“, will sagen: Besonders hoch und weit sind sie ja nicht gekommen! Sonst hätte Gott ja die Hand ausstrecken können, aber er muss erst ziemlich weit nach unten fahren, so lächerlich klein ist der größte Turm der Menschen. Doch als Gott das Anliegen dahinter sieht und spürt, eben, dass der Mensch Gott sein will, wird er ärgerlich und verwirrt ihre Sprache, sodass sie sich nicht mehr verstehen können und zerstreut sie in alle Lande.

Pfingsten ist nun die positive Entsprechung, die Aufhebung des altestamentlichen Fluchs, mit dem Gott die Menschheit und ihre Hybris in 1. Mose 11 straft. Der Fluch Gottes bestand darin, die Menschheit durch Sprachenvielfalt zu spalten. Das Wirken des Heiligen Geistes überwindet die alten Grenzen, schafft eine neue Einheit. So wird die Aufzählung der Völker in 1. Mose 10 – also kurz vor dem Turmbau zu Babel – auch in der Aufzählung der anwesenden Nationalitäten beim Pfingstfest aufgenommen (von Osten nach Westen, von Süden nach Norden). Die gesamte damalige Welt ist in Jerusalem präsent und hört durch das Wirken des Heiligen Geiste die Geschichte von Jesus Christus in ihrer Sprache. Gott schafft Verbindung und Einheit, überwindet Grenzen und Barrieren.<

Der Mensch in seiner Hybris, in seinem Allmachtswahn, bewirkt dagegen Chaos, gegenseitige Verachtung und Spaltung. Da gibt es zur Zeit auch genügend politische Beispiele. Aber leider nicht nur da. Die gesamte Kirchengeschichte zeigt, dass der Mensch immer wieder in den alten Fluch von Babel zurückkehrt. Immer wieder gab es Spaltungen und bis zum heutigen Tag misstrauen die verschiedenen Konfessionen und Denominationen einander. Die Baptisten misstrauen den Methodisten, die Lutheraner gehen den Reformierten aus dem Weg, die Pfingstler spotten über die Charismatiker. Und sogar rund um den Tisch einer einzigen Gemeinde zanken sich die Geschwister oder meiden den Blickkontakt.

Auch die christliche Gemeinde, welche Form auch immer sie hat, ist eben nicht vor Neid und Streit, vor Debatten und Differenzen gefeit. Da kann sich wohl jeder auch an die eigene Nase fassen. Wir Menschen sind große Meister im Beurteilen und Verurteilen anderer, und es scheint auch eine besondere menschliche Eigenart zu sein, sich relativ schnell Gleichgesinnte zu suchen, mit denen man dann  gemeinsam über andere herziehen kann.

Christen müssen nicht alle den gleichen Charakter besitzen oder dieselben Hobbys pflegen. Sie müssen auch nicht identische Meinungen oder politische Überzeugungen haben. Sie brauchen nicht den gleichen Musikstil zu pflegen, auch ihre Denkweisen und Lebensstile müssen nicht genau aufeinander abgestimmt sein. Einheit der Christen meint nicht, dass wir unsere eigene Persönlichkeit aufgeben müssen, um uns einem christlichen Idealtypus anzugleichen. „Jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden“, heißt es.  Aber das alles Verbindende ist der Glaube an Jesus Christus als unseren Herrn und Heiland.

Gott hat nur eine Herde auf der ganzen Welt. Und wer immer meint, seine Gruppierung sei gläubiger oder wisse es besser als die anderen, hat Pfingsten aus dem Blick verloren.

Ja, Pfingsten ist ein Fest der Ernüchterung, dass wir es in unserer menschlichen Hybris eben nicht geschafft haben und wohl auch nicht schaffen aus eingenem Vermögen, Glauben in Einheit zu leben. Dazu brauchen wir den Heiligen Geist, ihn müssen wir wirken lassen. Und das heißt: Macht – auch in der Kirche – aus den Händen zu geben.

Christentum, Kirche, ist ohne den Heiligen Geist eine unerträgliche Sache, und ihr Kritiker haben recht. Aber mit dem Heiligen Geist kann es die wunderbarste Sache der Welt sein.

2. Eine zweite Verbindung zur altjüdischen Tradition besteht darin, dass an unserem Pfingstfest die Juden ein Erntefest feiern (3. Mose 23,17ff): „Pentecoste“ (fünfzig), es wird 50 Tage nach dem Fest der „Erstlingsgabe“ gefeiert, also unserem Osterfest.

Warum wählt Gott aber dieses Erntefest als den richtigen Zeitpunkt der Geistausgießung aus?! Ich denke, das hat etwas mit göttlicher Strategie zu tun.

Jesus hatte ja vor seinem Weggang seinen Jüngern den Auftrag gegeben, das Evangelium von Jesus Christus in alle Welt zu bringen. Doch seine Jünger waren genauso wie wir ganz und gar Menschen mit all ihren Begrenzungen. „In alle Welt“ – das würde ihnen nicht leicht fallen. Und zwar nicht nur, weil sie vielleicht einfache Arbeiter und Fischer waren, sondern weil es ihnen schwer fiel, ihr Herz für andere und fremde Kulturen zu öffnen. Und so lesen wir auch später in der Apostelgeschichte, welche Aufregung es allein dadurch gab, dass ein erster Heide zum Glauben an Jesus Christus kam (Apg 10: die Sache mit dem Hauptmann Kornelius, von der wir auch in unserer diesjährigen Predigtreihe hörten). Da wurde ein ganzes Apostelkonzil nötig, um die Frage zu klären, ob auch ein Nichtjude Christ sein darf.

Gott wählte den Zeitpunkt der Geistausgießung nun so, weil an diesem Tag jüdische Pilger „aus aller Herren Länder“ in Jerusalem sind. D.h., die Verbreitung des Evangeliums in alle Welt beginnt hier in Jerusalem. Bevor seine Jünger in alle Welt gehen, hat er damit hier bereits begonnen. Denn als diese vom Geist berührten Menschen in ihre Heimatländer zurückkehrten, wurden sie dort zu den ersten Missionaren.

Es heißt, 3000 Menschen fanden an diesem Tag zum Glauben an Jesus Christus und wurden getauft. Das war eine Ernte, und der Heilige Geist war der eigentliche Motor, er gab den Jüngern, die sich bis zu diesem Zeitpunkt versteckt hatten, den Mut, vor die Menschen zu treten und von den großen Taten Gottes zu berichten.

Ja, das Pfingstfest ist ein Fest der Ernüchterung im Hinblick auf unser menschliches Vermögen auch und gerade in Sachen Glauben.

Das heißt auch für mich als Pfarrerin: Ich habe fünf Jahre studiert, habe Hebräisch, Griechisch und Latein gelernt, habe viel Bücher gelesen, kenne viele Schriften von Luther. Doch ob ich nun diesen Text aus dem Griechischen übersetzen kann oder nicht, ist mir zwar wertvoll, aber dadurch ändert sich kein einziger Mensch, der diese Predigt hört. Kein einziger Mensch findet dadurch zum Glauben an Jesus. Mein Wissen, meine Ausbildung, das ist alles wertvoll, aber es fehlt dabei noch etwas, was man nicht lernen kann.

Vielleicht kennt ihr das auch: Du wünscht dir etwas, z.B. mehr Einfühlungsvermögen oder dass du nicht so leicht reizbar bist, aber genau dafür gibt es kein Schulfach und keinen Kurs an der Volkshochschule.

Ich kann die ganze Bibel studieren, aber das hilft mir noch nicht, einen Menschen zu lieben. Nein, der Heilige Geist ist der Motor, die Energie, die Menschen wirklich verändert.

Ja, das Pfingstfest ist ein Fest der Ernüchterung im Hinblick auf unser menschliches Vermögen.

3. Als drittes ist das Pfingstfest auch der jüdische Gedenktag an die Gesetzgebung am Sinai. 50 Tage nach der Befreiung aus Ägypten gibt Gott seinem Volk das Gesetz auf zwei Steintafeln. Wenn die Ausgießung des Heiligen Geistes nun an diesem Tag der Gesetzgebung geschieht, dann bedeutet das, dass Gott seinen Bund nicht mehr nur auf zwei Tafeln in Worte fasst, sondern uns ins Herz hineinschreibt, und das macht uns frei – nicht von den 10 Geboten, als vom Gesetz, aber von aller Gesetzlichkeit.

Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig. Man könnte auch so den Unterschied fassen: Gesetzlichkeit bedeutet: Ich mache etwas, weil ich sonst Ärger kriege; Freiheit heißt: Ich entscheide mich, ich will das von ganzem Herzen.

Jemand hat mal gesagt, ohne den Heiligen Geist heulen die Motoren in unseren Köpfen, wir kriegen die PS nur nicht auf die Straße. Wir wissen alles und oft noch besser als die anderen, nur mit dem Leben kriegen wir das nicht geregelt.

Da ist sie wieder, die menschliche Hybris.

Und das deshalb, weil der längste Weg auf Erden 30 cm lang ist – es ist die Strecke zwischen Verstand und Herz – und nur der Heilige Geist vermag den Abstand zu überwinden.

Wir Christen lernen vielleicht die Gebote auswendig, debattieren über die Regeln, beurteilen einander nach bestimmten Verhaltensweisen. Und leider ist es oft so, dass unser Herz außen vor bleibt. Es ist wie bei meinem Lieblingsbeispiel vom Tanzen. Man kann Tanzen mit einem Buch lernen, man kann sich die Tanzschritte herausschreiben und aufzeichnen und mit dem Buch in der Hand danach üben: 1-2-3, 1-2-3… Aber das Tanzen wird nur dann zum Tanzen und lebendig, wenn wir auch die Musik dazu hören und leben.

Tanzen ohne Musik ist Knochenarbeit. Und Glauben ohne den Geist Gottes – sprich ohne Spiritualität – ebenfalls.

Glauben ist nicht etwas, was Menschen selbst „machen“ können. Und den Glauben zu leben, ebenfalls nicht. Nein, es ist Gott selbst, der da am Werk ist.

In der Pfingstgeschichte wird seine Wirkungsweise wie die Wirkung des Windes beschrieben, auch schon im Alten Testament wird damit eine ungeheure Kraft Gottes zum Ausdruck gebracht.

Wer von euch fährt gerne Fahrrad? Da spielt der Wind ja auch durchaus eine Rolle. Man sieht ihn nicht, aber er ist für das Vorankommen durchaus entscheidend. Gegenwind z.B. bremst aus. Ich fahre lieber den Berg hoch als gegen den Wind. Beim Berg sehe ich wenigstens die Herausforderung, den Wind kann man nicht packen.  Und jetzt stellen wir uns vor, diese Kraft wäre kein Gegenwind, sondern Rückenwind. Dann wird unsere Fahrt auf einmal so, als säßen wir auf einem E-Bike. So will uns Gott in Bewegung bringen. Das gibt den Schwung auch dazu, Dinge im Leben zu ändern und Heilung an Leib und Seele zu erfahren.

Martin Luther hat gesagt: „Der Heilige Geist macht den Menschen keck, fröhlich, mutig, ja beflügelt ihn zu einer heiteren Dreistigkeit, nahezu im Schwung des Übermutes das Leben anzupacken und zu gewinnen.“

Ein letzter Gedanke: Pfingsten ist genauso wie Weihnachten und Ostern ein einmaliges Ereignis. Wir können es nicht wiederholen. Aber wenn wir uns jedes Jahr daran erinnern, dann deshalb, weil es doch auch mehr ist. Auf der einen Seite einmalig, und doch brauchen wie es – auch um das richtige menschliche Maß im Angesicht Gottes zu finden – dass Gottes Geist in unser Leben kommt und uns den entsprechenden Rückenwind schenkt.

Deshalb ist der Geist Gottes schon da und gleichzeitig kann man auch darum bitten.

Amen.